Umbau einer Industriestadt - Das Beispiel Bozen

Harald Kegler

Wer denkt bei Südtirol an alte Industrieanlagen? Malerische Bergkulissen, Täler mit Sesselliften und in Trachten gekleidete Menschen bestimmen das Bild von Südtirol, der Landschaft zwischen Alpen und Dolomiten. Ein klassisches Urlaubsgebiet. Bestenfalls die Brennerautobahn wird gemeinhin als scharfe Zäsur in der Idylle zu den Zeugnissen der Industrialisierung gerechnet.
Doch Bozen ist auch Industrieort, nicht nur Zentrum der Freizeitindustrie. Und zwar ein Industrieort im Wandel. Ähnlich wie in so vielen anderen Industrieregionen stellt sich in der Hauptstadt Südtirols die Frage nach dem Umgang mit den prägenden Spuren der Industriegeschichte.
Im Flusstal der Eisack stehen Bänder still und Hallen leer. Abriss und Neuplanung oder Neunutzung und Erhalt sind dort die drängenden Fragen, ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen oder im Industriellen Gartenreich in der Region Anhalt - allerdings mit Alpenpanorama.

Mitte Oktober 2000 lud der Verein "Zeit der Fabriken", eine südtiroler bürgerschaftliche Vereinigung für Erhalt und Pflege der Industriekultur, in Bozen zu einer Konferenz ein, um über das Thema der Nachnutzung von Industriebauten in der 100.000 Einwohner zählenden Stadt zu diskutieren. Es ging darum, internationale Erfahrungen auszutauschen und zugleich praktische Schritte bei konkreten Vorhaben einzuleiten.
Im Zentrum stand eine durch diese Vereinigung und die Architektenkammer in Bozen initiierte öffentliche Debatte über den Erhalt und die Neunutzung eines der wichtigsten Industrieobjekte in Norditalien, die ALUMIX-Werke. Ein in mehrfacher Hinsicht "sperriges" Gut stand zur Debatte: Mitte der dreißiger Jahre errichtete der faschistische Diktator Benito Mussolini dieses Werk zur Produktion von Aluminium in Bozen. Südlich der kleinen Stadt, die durch die deutschstämmige Bevölkerung dominiert wurde und zu den ältesten Handwerker- und Handelsstädten am Brennerpass zählt, errichteten die italienischen Faschisten dieses der Rüstungsindustrie dienende Werk.

Es bestand aber nicht nur die Absicht, die Industrialisierung Norditaliens voranzutreiben und dafür das günstige Energieangebot der Alpenstauwerke zu nutzen, sondern zugleich die "Italianisierung" Südtirols zu forcieren. Mit dem Aufbau der Werke zogen tausende Arbeitskräfte aus ganz Italien, insbesondere aus dem Süden, nach Südtirol. Mit den Industrieanlagen wuchsen Wohngebiete, die entlang neuer Magistralen entstanden. Die Fläche Bozens, bis dahin auf die Altstadt beschränkt, wuchs um ein Vielfaches. Ein Bahnhof komplettierte den Stadtumbau der dreißiger Jahre. Innerhalb weniger Jahre war eine neue Stadt entstanden, die klar gegliedert war: die Altstadt, die Wohngebiete und die Industriezone, jeweils getrennt durch Flussläufe und Verkehrstrassen. Bozen stellte sich als ein "Klassiker" der funktionell gegliederten Stadt dar, wie sie avantgardistische Planer als industrielle Idealstadt bereits seit der Jahrhundertwende ersonnen hatten. Der Umbau der Altstadt konnte nicht mehr vollzogen werden, der Zweite Weltkrieg verlagerte die Ambitionen Mussolinis. Lediglich Triumphbogen und neuer Bahnhof wurden realisiert, die heute noch das historische Zentrum "einrahmen".
So ergibt sich eine für die italienische Industrialisierungsphase dieser Zeit typische Melange aus funktionalistischer Modernität und faschistoider Machtdemonstration, was sowohl in Symbolbauten der Industriearchitektur als auch der Gliederung der Stadt insgesamt sichtbar erhalten geblieben ist. Die zentralen Bauten des ALUMIX-Werkes stehen für die Modernität des beginnenden Industriezeitalters in dieser Region. Sie zu erhalten bedeutet mehr, als ein Stück Industriegeschichte zu sichern. Hier geht es darum, ein Stück Widersprüchlichkeit dieser Epoche zu bewahren und für die weitere Entwicklung der Stadt - als Bestandteil ihrer Identität - auch bei neuen Nutzungen zu sichern.

Sicherung
Die ALUMIX-Werke wurden vor zehn Jahren geschlossen. Lediglich in einem Teil des ehemaligen Großbetriebes wird eine Produktion weitergeführt. Die Hauptgebäude stehen leer und zeigen Verfallsspuren.
Die Werksgebäude stellen Inszenierungen der Elektrizität und des Zukunftswerkstoffes Aluminium dar. Trotz der Patina strahlen sie immer noch die Ambitionen der Aufbruchsära der Industrie in Norditalien aus.
In der übrigen Industrie Bozens vollzieht sich gegenwärtig ein rasanter Wandel, der keine Zeit zu haben scheint für die Reflexionen auf die Entstehungsgeschichte. Die neuen ausdruckslosen Gewerbehallen schieben sich über die ehemaligen Industrieareale und drängen in die noch nicht verbaute Landschaft.
Die Bozener Konferenz konnte einen Durchbruch erreichen: Die ALUMIX-Hauptgebäude wurden offiziell auf die staatliche Denkmalliste gesetzt. Die Symbole einer komplizierten Epoche sind gesichert. Nun könnte ihre touristische Nutzbarmachung beginnen. Doch dem versuchten die Veranstalter dieser Initiative einen weitergehenden Rahmen zu geben und damit die Auseinandersetzung auf grundlegendere Fragen zu lenken.

Gegenwart
Bozen prosperiert. In der Stadt mit 100.000 Einwohnern besteht wachsende Nachfrage an Wohn- und Gewerbeflächen und kaum Arbeitslosigkeit. Fördermittel fließen in diese Grenzregion mit ihren zwei Kulturen, was die Ansiedlung neuer Kultureinrichtungen wie Museen oder neue universitäre Angebote möglich macht. Auf gediegenem Wohlstandspolster könnte die Debatte um den Stadtumbau, um die Wiedernutzung von Industriearealen entspannt geführt werden.
Wären da nicht europäische Entwicklungen. Die Nähe der ehemaligen jugoslawischen Republiken ist unmittelbar zu spüren. Eine Europäische Akademie für sozial-politische Bildung öffnet im kommenden Jahr in Bozen ihre Pforten. Erste Austauschstudenten aus Slowenien sind bereits in der Stadt.
Man weiß, dass die üppigen Fördergelder aus Brüssel in nächster Zeit verstärkt in die zukünftigen Beitrittsländer fließen werden. Ein Umdenken beginnt. Es muss zukünftig mehr mit dem Vorhandenen gearbeitet werden. Noch gibt es keine Krisenstimmung. Doch es konkurrieren zwei Strömungen. Die eine setzt auf Wiederverwendung, Begrenzung von Wachstum und Innenentwicklung. Die andere variiert die Politik des ungebrochenen Wachstums durch singuläre Elemente der Stadterneuerung, wie z. B. die Unterstützung des ALUMIX-Projektes.
Weitaus wichtiger wird in Bozen allerdings das Bahnhofsprojekt genommen. Beabsichtigt ist die Verlegung des Bahnhofs um etwa 500 Meter und die Vermarktung des frei gewordenen Geländes an private Investoren.

Entwurf
Bereits vier Wochen vor der Konferenz hatte die Architektenkammer Südtirols zu einem internationalen Entwurfsseminar eingeladen. Architekten, Stadtplaner und Landschaftsarchitekten aus Italien, der Schweiz und Deutschland sollten die Städtebaudebatte über den industriearchäologischen Horizont hinaus anregen. Zwei Gebiete hatte man zur Bearbeitung ausgesucht. Zum einen das Industriequartier im Süden der Stadt, zum anderen - als Pendant zur Industriezone - das Gelände des Hauptbahnhofs, der sogenannte "Bozener Boden" am östlichen Rand der Altstadt. Beide Areale stehen für aktuelle Diskussionen zum Umbau der Innenstädte in Europa. Industriegebiete bieten Umnutzungsaufgaben, Bahnhofsareale versprechen Attraktivitätsgewinn und neues hochwertiges Bauland. Stuttgart und Wien werden als Kronzeugen solcher Strategien herangezogen.
Der Vorschlag des deutschen Teams "Industrielles Gartenreich" aus Berlin/Dessau zielt auf eine gesamtstädtische statt einer sektoralen Betrachtung. Aus einer Analyse aller Potenziale Bozens wurden Vorschläge erarbeitet, wie sich die Fortschreibung einer trennenden Stadtentwicklung verhindern lässt. Denn bei unverbundenen Einzelmaßnahmen würde das altindustrielle Areal um das ALUMIX-Gelände lediglich eine punktuelle Aufwertung mit einen schön sanierten Industriebau erhalten, ansonsten aber als wirtschaftlicher "Hinterhof" mit seiner amorphen Gewerbebebauung festgeschrieben, während allein die Altstadtumgebung an Noblesse gewänne.
Der Masterplan des Dessau-Berlin-Teams definiert dagegen eine zusammenhängende Transformationszone, die das Industriegebiet mit den Wohnbereichen und dem "Bozener Boden" verbindet. Dabei werden neue, öffentliche Korridore erschlossen, Haltepunkte der Bahn eingefügt, der Straßenraum für Fußgänger attraktiv gestaltet, eine Staffelung der Gewerbebebauung vorgesehen und das Bahnhofsareal behutsam umgestaltet, ohne den Bahnhof zu verlegen. Gleichzeitig werden Entwicklungsleitlinien offeriert, die Innenentwicklung favorisieren, indem klare Grenzen der Stadtausdehnung definiert sowie Wohnmischung und touristische Nutzung für das Gewerbegebiet vorgeschlagen werden. Das ALUMIX-Gebiet wird zu einer Gartenzone inmitten der Industriebrache umgestaltet.

Baustein einer Europäischen Akademie der Regionen
Die deutsche Gruppe wurde wegen ihrer Erfahrungen mit dem Umbau altindustrieller Gebiete eingeladen. Der mitteldeutsche Referenzraum, das Industrielle Gartenreich, bot Anlass für die Beteiligung am Seminar und an der Konferenz. Der Erfahrungstransfer hat nicht zufällig an einem Ort stattgefunden, der sich bereits mit einer Europäischen Akademie auf den Weg begeben hat, Kooperation zu Fragen der europäischen Transformation, zu einem "Europa der Regionen" zu beginnen. Wiederum nicht zufällig entsteht der Neubau dieser Akademie in Bozen an der Nahtstelle zwischen Industriezone und Altstadt. Er soll eine Trennlinie in der Stadt "vernähen" helfen. Noch konsequenter wäre wohl der Einzug in einen der Kopfbauten auf dem ALUMIX-Gelände gewesen.
Bozen ist mit dem offensiven Zugehen auf den europaweiten Austausch von Ideen und Lösungsvorschlägen prädestiniert, in einem Ensemble dezentraler "Laboratorien" und "Hörsäle" einer Europäischen Akademie der Regionen, einer Akademie für "kreative Sanierung von Kulturlandschaften, die durch menschliche Tätigkeit geschädigt wurden", wie inzwischen der offizielle Wortlaut eines EU-Förderprogrammes lautet, eine wichtige Rolle einzunehmen. Entwurfsworkshop und Tagung zur Stadtentwicklung in Bozen sind ein weiterer Baustein auf dem Weg zu einer "Akademie der Regionen", einem Netzwerk, das sich entlang der Industriegürtel quer durch Europa zieht.

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