Gerade war sie angelaufen, die Renaissance des Bauhauses in der DDR, da schlich sich die Postmoderne in die Gemächer des ehrwürdigen van de Velde-Baus in Weimar ein. Mitte der 1970er Jahre nahm die Wiederentdeckung des Bauhauses in der DDR konkrete Formen an: das Bauhausgebäude in Dessau wurde (äußerlich) wieder hergestellt und das Haus am Horn in Weimar bekam sein historisches Antlitz zurück. Schließlich wurden die Insignien des Bauhauses von Schlemmer, die Figuren im Foyer des Hauptgebäudes der Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB) neu erschaffen. Die Renaissance war spät gekommen, hatte über ein Jahrzehnt gebraucht, ehe die Bemühungen „im Untergrund“ bei den Oberen in Berlin auf Gegenliebe stießen. Befördert war diese Hinwendung zum einst gescholtenen bürgerlichen Erbe auch der Schließung der Bauhaus-Nachfolgeinstitution in Ulm 1969. So konnte sich die DDR als wahrer Erbe des Bauhauses brüsten und es als außenpolitisches Instrument verwenden. Auf diese Weise erhielt – nach langen Jahren der Vorbereitung im Verborgenen – auch die Beschäftigung mit dem Bauhaus offiziell Einzug in das Lehrrepertoire der Weimarer Schule. Gleichzeitig hatte bereits die Auseinandersetzung mit der beginnenden Postmoderne in der BRD, in Westeuropa und den USA begonnen. Es war eine aufregende Situation zwischen Aufbruch und Verteidigung, die sich in die Debatten des Lehrbetriebes hineinzogen.
Ohne an dieser Stelle die gesamte Diskussion, die den Umbruch im modernen Städtebau Mitte der 1970er international trug darstellen zu können, sei nur auf zwei Momente verwiesen, die der Autor aus persönlichem Erleben rückblickend als wesentlich für diese Periode europäischen Städtebaus ansieht:
Mein Studium der Architektur und des Städtebaus an der HAB Weimar von 1978 bis 1983 lag in einer Zeit, die die Umbrüche im internationalen Städtebau zu reflektieren begann und zugleich vor der offiziellen Etablierung des „postmodernen“ Städtebaus in der DDR angesiedelt war. Eine maßgebliche Rolle spielte die Erstarkung der Denkmalpflege in der offiziellen Lehr- und Baupolitik. Das europäische Denkmaljahr 1975 hatte einen entscheidenden Impuls gesetzt. Die europäische Kampagne „A Future for our Past“ des Europarates hatte auch in den Ländern jenseits des „Eisernen Vorhangs“ Widerhall gefunden (vornehmlich in Polen). Das Denkmalgesetz der DDR wurde im gleichen Jahr novelliert, die alte Stadt erhielt einen kulturpolitischen Eigen-Wert, und „städtebauliche Rekonstruktion“ wurde zu einem tragenden Lehrgebiet. Die alte Stadt hatte innerhalb eines Jahrzehnts in der DDR – seit Ende der 1960er Jahre – einen geradezu paradigmatischen Wertewechsel erfahren: von der zu überwindenden Erblast aus der „Vorgeschichte“, die durch die neue, moderne, „sozialistische“ Stadt zu ersetzen sei - übrigens nach ähnlichen Prinzipien - wie sie weltweit in der gar nicht sozialistischen Welt praktiziert worden waren: autogerecht, ahistorisch, antiurban und topdown geplant mit vergleichbaren architektonischen Ausdrucksformen. Brasilia galt als Vorbild. Nun begann, nicht zuletzt mangels ökonomischer Kraft, diesen radikalen Stadtersatz umsetzen zu können, eine Hinwendung zur vorhandenen Stadt mit einer klaren Absage an die antiurbanen Konzepte der Moderne, die einst als die Inkarnation der sozialistischen Stadt angesehen worden waren. Zugleich aber wurde mit derselben ideologischen Inbrunst das Erbe von Hannes Meyer und Ludwig Hilberseimer als ebenso integraler Bestandteil des geschichtlichen Reservoirs städtebaulich-architektonischer Ausbildung angesehen. Die explizit antiurbanen Konzepte von Hannes Meyer und besonders von Hilberseimer galten als a priori fortschrittlich, wenngleich sich dabei – eher implizit – auf das architektonische und sozialpolitische Moment in diesen Konzeptionen bezogen wurde. Dennoch war der Widerspruch eklatant. Er markiert die Verunsicherung und Suche nach der Positionierung im Umbruch des städtebaulichen Denkens in den 1970er Jahren in der DDR. Das 1975 erlassene Denkmalgesetz der DDR stellt einen Markstein in dieser Diskussion dar. Dabei wurde z. B. auch explizit auf die Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmalen und Denkmalgebieten von Venedig 1964 Bezug genommen. In der Lehre aber spielte das Denkmaljahr von 1975 in verschiedener Hinsicht eine wichtige Rolle. Die alte Stadt war nunmehr offiziell rehabilitiert.
Dieser paradigmatische Wandel war aber wahrscheinlich nur möglich gewesen, weil ein wirklicher Abschied von der alten Stadt in der DDR nie stattgefunden hatte. Als Stadtbaukunst hatten Prinzipien, wie sie in der alten Stadt abzulesen waren, auch in den Planungen für den sozialistischen Umbau der Zentren mit ihren Symbolbauten eine mittelbare Anwendung erfahren. Das eher unspezifische Orientieren an der überkommenen Stadt bezog sich auf alle historischen Epochen der europäischen Stadtgeschichte. So waren selbst die städtebaulichen Großvorhaben der Ulbricht-Ära, denen Henselmann den künstlerischen Ausdruck verliehen hatte, nie antiurban (stadtauflösend) gedacht, wenngleich sie z. T. verheerende Eingriffe in die vorhandene Stadtstruktur hervorriefen, was am Beispiel der Innenstadt von Jena nachvollziehbar ist.
Die Bücher
Die ideologischen Überformungen und Vereinseitigungen, die ökonomistische Reduzierung der Stadt auf einen „Standort der Produktivkräfte“ vermochten nicht oder nur oberflächlich den „Geist“ der alten Stadt zu tilgen. Dabei war der Bezug zur alten Stadt nicht immer direkt auszumachen, eher wurden die „übersetzten“ Gestaltungsprinzipien, wie sie seit Kevin Lynch in den 1960er Jahren verbreitet worden waren (Original „The Image of the City“, 1960, als deutsche Übersetzung in der Reihe „Bauwelt-Fundamente 1965 erschienen) und dann in dem Buch von Kazimierz Wejchert aus Polen Einzug in die öffentliche Debatte der DDR ab Mitte der 1970er Jahre gefunden hatten: als Qualitäten der städtebaulichen Komposition. Es war eine Romantik, die Einzug hielt in die meist technokratische Planungsarbeit. Sie kam aber keineswegs naiv oder trivial rückwärtsgewandt daher, sondern war um Qualitäten bemüht, die eine städtebauliche Kultur europäischer Städte bereichern sollte. Angesichts einer Baukultur von z. T. erschreckender Banalität, Schludrigkeit und Ignoranz erschien ein solches Anliegen wie eine „Don Quichotterie“. Dennoch: die Debatte um die Kultur der europäischen Stadt hatte breite Kreise der Fachwelt ergriffen. Sie basierte auf der Vorstellung, die Analyse der alten Stadt nach Kriterien der Wahrnehmung führt zu Ergebnissen, die eine wissenschaftlich begründete Planung der psychologischen Qualitäten des neuen Städtebaus eröffnet. Das positivistische Denken hatte einen festen Platz in der wissenschaftlichen Debatte. Dennoch: Die Versuche, der städtebaulich-räumlichen Qualität, der städtebaulichen Komposition, einen höheren Stellenwert im öffentlichen Bewusstsein, in der Planung und im gesellschaftlichen Bauprozess zu verleihen, sind unverkennbar. Sie spielten in die Auseinandersetzungen in der Lehre eine wichtige Rolle. Heftige Debatten wurden geführt um die „Sprache der Architektur“, die als Wegbereiter der Postmoderne galt. Scharfe ideologische Auseinandersetzungen paarten sich mit konstruktiven Versuchen, diese in die Planungs- und Gestaltungsarbeit zu integrieren. Eine wichtige Rolle für die städtebauliche Diskussion in Weimar lieferte das Buch von Rob Krier über die städtebaulichen Platzanalysen („Stadtraum“, 1975). Für die Entwurfsübungen wurde das (westdeutsche) Handbuch von Michael Trieb, Stadtgestaltung, 1974, ein permanenter Wegbegleiter. Mit dem 1979 von der Bauakademie vorgelegten Handbuch des Städtebaus der DDR war erstmalig ein zusammenhängendes Kompendium für den Städtebau in der DDR erstellt worden. Es wurde eines der wichtigsten Lehrbücher für die Studierenden. Ausführlich ist die Rolle der alten Stadt, der städtebaulichen Gestaltung, der Denkmalpflege der Qualitätsanforderungen an Gestaltung – neben allen technokratischen Fragen – behandelt worden. Darüber hinaus begann eine politische und wissenschaftliche Grundsatzdebatte über die Rolle der Stadt für die Zukunft der sozialistischen Gesellschaft, eine Frage, die bei den „Klassikern“ des Marxismus-Leninismus nur unzureichend geklärt worden war. Hier kann das Buch von Siegfried Grundmann „Die Stadt“ (1984) angesiedelt werden. Es stellt den Versuch dar, die Stadt generell in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und urbane Perspektiven für die gesellschaftliche Entwicklung auszumachen. Schließlich müssen die Parteibeschlüsse bedacht werden. Sie waren nicht unwesentlicher Gradmesser der Renaissance des „Städtischen“ auf der staatsoffiziellen Ebene der DDR. Wesentlicher als die akademischen Veröffentlichungen für ein Umsteuern (zunächst nur verbal) war eine Wohnraum- und Bevölkerungszählung im Jahr 1981. Sie ergab verheerende Ergebnisse über den Erfolg des Wohnungsbauprogramms: es verfiel mehr Wohnraum als durch Neubau am Stadtrand kompensiert werden konnte. Dies bewirkte den Slogan der Politführung: „Hinein in die alte Stadt“. Doch darauf war die Bauindustrie überhaupt nicht vorbereitet, die Städtebauer hingegen eigentlich recht gut. Darin lag eines der großen Dilemmata der Absolventen.
Fazit: die Postmoderne „lag in der Luft“.
Die Bauten
Maßgeblichen Einfluss auf die Diskussionen in Fachkreisen, aber auch in der Lehre hatten die Bauten, die Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre errichtet worden waren und die diesen „Zeitenwandel“ repräsentierten. Allen voran die Projekte in Berlin. Zunächst stand die Internationale Bauausstellung in Berlin-West im Zentrum der Vorlesungen und Debatten. Der Schwerpunkt lag dabei auf der IBA-Neu, d. h. z. B. den Bauten von Aldo Rossi oder Rob Krier. Die Wiederentdeckung des „Berliner Blocks“ als städtebaulichem Typus, wie er z. B. in dem Bau von Rob Krier sich wiederspiegelte, wurde durch eine Diplomarbeit an der HAB, Sektion Gebietsplanung und Städtebau, von Andreas Sommerer u.a. ein entsprechendes Pendant versucht. Der Baublock als geschlossene Struktur, die es ermöglichen sollte, wieder Straßen und Plätze zu schaffen und dabei die Plattenbauserie einzusetzen, zielte auf eine städtebauliche Renaissance und Abkehr vom schematischen Plattenbaustandard mit Zeilen- oder verschlungenen Raumstrukturen. In diesen Zusammenhang gehört der Beitrag der HAB Weimar zum studentischen Wettbewerb für die UIA von 1982. Die Autoren (betreut u. a. von Grönwald und Sieber von der Architektur bzw. Städtebausektion – eine eher seltene Kooperation) hatten eine Beitrag zur „Rekonstruktion“ des Andreasviertes in Erfurt eingereicht und den Preis des Weltverbandes der Architekten dafür erhalten – ein fulminanter Erfolg, der die Lehrmeinung einer behutsamen Stadterneuerung (der Begriff wurde als „städtebauliche Rekonstruktion“ in der DDR sinngleich geführt) unterstrich. Gebaut wurde aber nichts davon – die Stadterneuerung war zuungunsten des Plattenbaus am Stadtrand soweit herunter gefahren, dass nur in bescheidenem Maße in der Altstadt erneuert werden konnte
Abb. 1
Ein Beispiel für einen Versuch der Umsetzung von städtebaulichen Maßnahmen mit einem anderen Bausystem im Altstadtbereich war Quedlinburg, wo unter Anwendung einer Schalenbauweise, Strukturen der Altstadt bewahrend bebaut werden konnten. Der Autor hatte hier sein Praktikum absolviert und dadurch Einblicke in eine Praxis gewonnen, die jedoch nicht zum gängigen Muster der bautechnologischen Monokultur in der DDR zählte. Letztlich aber wurden die Sonderbauten in der Hauptstadt der DDR zu einem Ausdruck dieses Wandels zum postmodernen Städtebau. Der Platz der Akademie, der neue Friedrichstadtpalast, die Debatten um die Friedrichstraße und schließlich der Höhepunkt, das Nicolaiviertel (Planung unter Leitung von Günter Stahn, fertiggestellt 1987) lieferten enormen Stoff zur Diskussion über das Wesen eines dem Sozialismus adäquaten Städtebaus.
Im gleichen Kontext stehen die Experimente einer städtebaulichen Rekonstruktion in Greifswald und in Rostock, die mittels Plattenbausortimenten versuchten, die historischen Blockstrukturen – neu interpretierend - nachzubauen. Dies war sicher ein wesentlicher Schritt zum postmodernen Städtebau, der auch heute noch ansehbar ist.
Anekdote:
Als Studenten des Städtebaus waren wir von unserem Lehrer Hubert Matthes, führender Landschaftsarchitekt in der DDR und Professor für dieses Gebiet an der HAB, animiert worden, uns mit den historischen Strukturen der Stadt und ihrer landschaftlichen Potenziale zu beschäftigen. Eines der Vorzeigeprojekte in Berlin sollte der Thälmann-Park im Prenzlauer Berg sein. Ein altes, stillgelegtes Gaswerk sollte in einen repräsentativen Erholungspark umgestaltet werden – ein Thema, das durchaus Symbolbedeutung hatte. Neben der ideologischen Funktion, den Arbeiterführer durch einen Park, nebst monumentalem Denkmal zu ehren, war dies einer der ersten Umnutzungsprojekte einer Industriebrache, vergleichbar mit Gasworks in Seattle von 1972, ebenfalls einem Park auf einem ehemaligen Gaswerk. Der Unterschied: in Berlin sollten, laut offizieller Planung, alle Spuren der alten Anlagen beseitigt werden. Hubert Matthes hatte ein Entwurf angefertigt, der eben diese Spuren, insbesondere die großen Gasometer, erhalten und diese neue Nutzungen zuführen wollte. Was in der Umsetzung des Parks in Berlin nicht zum Tragen kam, wurde von uns Studierenden zum Anlass genommen, uns in einem Brief an den Chef der Sonderbauvorhaben der Hauptstadt, Gießke, zu wenden und unser Bedauern über diese Art Umgestaltung zum Ausdruck zu bringen. Der Brief, auf den wir keine Antwort wähnten, wurde nicht mit einer Antwort bedacht, sondern sogar mit einer Einladung verbunden, mit Gießke die Sonderbauvorhaben in Berlin, vornehmlich im Zentrum anzuschauen und mit ihm darüber zu diskutieren. Eine Änderung der Planungen für den Thälmannpark war nicht zu erwarten, dafür waren diese zu „hoch“ angebunden und längst in der Ausführungsplanung begriffen. Die Besichtigung sollte zu einer Fahrt an die Nahtstelle zwischen traditioneller Moderne und aufbrechender Postmoderne werden, ohne, dass dies allen bewusst geworden ist. Neben Gießke hatte an dieser Exkursion und Diskussion auch die Architektin Krause teilgenommen. Die städtebaulichen Positionen unterschieden sich gravierend: Gießke, Pragmatiker und umsetzungswilliger „Baulöwe“, führte uns SEINE Baustellen vor, weit entfernt von tiefsinniger Deutung, erklärte er deren Ziele mit der Umsetzung des VIII. Parteitages, wobei er umstandslos die Stärkung der Innenstadt, den populären Charakter „seiner“ Bauten und die Berücksichtigung der gewordenen Stadt als implizite Kriterien des Bauens voraussetzte. Die preußische Friedrichstadt war selbstverständliche Grundlage für den sozialistischen Städtebau und er setzte das Werk der Preußen fort – ausgestattet mit nicht geringem Sendungsbewusstsein. Dass die Gasometer im Park nicht erhalten werden konnten, war für ihn kein Gegenstand einer tiefer gehenden Fragestellung – er hätte alles gebaut. Doch in der Architektenschaft waren postindustrielle Strukturen als Grundlage für eine Neugestaltung noch nicht gängig. Lediglich die industriedenkmalpflegerische Integration von Zeugnissen der industriellen Vergangenheit hatte gerade Platz gegriffen. Der Zusammenhang von Postindustrie und Postmoderne stand noch in weiter Ferne. Immerhin: die Exkursion und die Debatte hatte nicht unerheblichen Einfluss auf uns Studierende, gewährte dies doch Einblicke in die Realität der Baukultur der DDR wie sie sonst kaum möglich gewesen wäre und offenbarte all ihre Widersprüchlichkeiten.
Die Lehrer
In Weimar hatte Ende der 1970er Jahre eine Generation die Lehrpositionen inne, die selbst maßgeblich durch die 1960er Jahre geprägt gewesen war. Viele hatten an der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt mitgewirkt oder waren an anderen großen Vorhaben der DDR Ulbrichts beteiligt gewesen. Ihre Studienzeit hatten sie aber in den 1950er Jahren absolviert, z. T. in Weimar. Sie waren mit dem Widerspruch von Bauhaus-Erbe und „Nationalen Traditionen“ aufgewachsen. Eines war ihnen gemeinsam: die künstlerische Dimension des Städtebaus und der Architektur. Gleichzeitig war die soziale Funktion von Städtebau und Architektur mehr als nur verordnete politische „Linie“ – was nicht ausschloss, dass so manche Darstellung ideologietriefend war. Fünf Kernbausteine der städtebaulichen Lehre prägten die Studierenden:
- die städtebaulich sowie landschaftskünstlerische Gestaltung;
- die städtebaulich rekonstruierende und denkmalpflegerische Planung;
- die empirisch stadtsoziologisch geprägte Stadtanalyse und Planung;
- die empirisch stadtmorphologisch geprägte Stadtplanung;
- die zunehmend historisch und ökologisch basierte bzw. orientierte Planung.
Daneben gab es eine durchaus im Widerspruch dazu stehendes Planungsverständnis gerade auf der stadt- und regionalplanerischen Ebene, das dem „Zeitgeist“ nicht mehr ganz adäquat war und von der Industriemoderne der 1960er Jahre geprägt war, die Atomkraft als Energiebasis propagierte oder die Territorialplanung mit einer funktionalistischen zentralörtllichen Gliederung analog zu Christaller favorisierte.
Gleichzeitig begannen in dieser Zeit auch Debatten – allerdings nicht in der Öffentlichkeit – um solche Theorien wie die der „Selbstorganisation“, wie sie von der Naturwissenschaft international erörtert worden. Gleichzeitig wurde der Planungsbegriff debattiert, schließlich war dieser ja eine Domäne der „Planwirtschaft“, d. h. der wirtschaftlichen und standörtlichen Verteilungsregulation, nicht aber der ästhetischen und sozialkulturellen Antizipation. Das mündete in heftigen Auseinandersetzungen um die Berechtigung einer separaten, von der Architektur getrennten städtebaulichen Planung. Die Stadt als eigenständige soziale, ökonomische und kulturelle Form der gesellschaftlichen Entwicklung war in den 1960er Jahren auf ihre Symbol- und Standortfunktion reduziert worden. Nun kam sie wieder ins Bewusstsein zurück. Es war also die Zeit, da ein Umbruch von den Lehrenden selbst durchlebt wurde. Die Studierenden hatten Anteil an dem inneren Ringen – ein durchaus produktiver, wenngleich nicht gerade beabsichtigter Beitrag zur Ausbildung.
Maßgeblichen Anteil an der Prägung der Studierenden im Sinne eines postmodernen Städtebaus hatten die Fächer städtebauliche „Rekonstruktion“ (Siebert, Hugk, Selling, Freytag)*, auch mit ihren „Stadtaufnahmen“ als studentische Analyse- und Entwurfspraktika (L. Krause, Hartmann) – wobei hier „Rekonstruktion“ nicht als Wiederherstellung alter Zustände sondern eher als Adaption und Bezugnahme auf die alte Stadt verstanden wurde; Landschafts- und Gartengestaltung (Matthes, G. Krause), Stadtplanung- und Geschichte (Bach), Stadtbaukünstlerische Analyse und Gestaltung für Architekten (Fliegel), Denkmalpflege (Wirth, Deiters), integrierte Verkehrsplanung (Vogler), in welcher - neben der gesellschaftlich hoch angesehenen Autoorientierung durchaus - eine die städtebauliche Strukturen unterstützende Verkehrsplanung vertretenden wurde, also eine Abkehr von der dominanten Autoorientierung im Städtebau vertreten wurde; die Architekturtheorie (Weber, Zimmermann), die sich, ausgehend von einem neuen Verständnis funktionalistischer Architektur, was nicht weniger war als die Abkehr vom strengem Glauben an den Bauhaus-Funktionalismus und einer Öffnung für die Postmoderne-Debatte auf dem internationalen Plateau, was zu scharfen Auseinandersetzungen mit der „reinen Lehre“ der Bauhaus-Interpreten führte und nicht zuletzt die Stadtsoziologie mit ihren kommunalen Praktika (Kuhn, Staufenbiel, Hunger) – ein in der DDR einmaliger Kurs, der den Studierenden die Sicht auf die sozialen Realitäten mittels empirischen Betrachtungen vermittelte, eine durchaus politische und ideologische Gradwanderung, erbrachten doch die Analysen Einsichten, die nicht mit den offiziellen Grundmustern der Wohnungspolitik übereinstimmten – doch gerade die unverstellte Sicht auf die städtischen Realitäten verhalf den Studierenden bereits im Grundstudium zu wesentlichen Einsichten, so oder so...
Die Studien-Arbeiten
Drei Arbeiten aus der eigenen „Mappe“ sollen das gelehrte Verständnis von Städtebau verdeutlichen. Sie beziehen sich auf die „Rekonstruktion“ des Stadtkerns von Weimar, auf eine angenommene Dekonstruktion eines wichtigen Straßenzugs in Weimar und auf die soziale Erneuerung der Stadt, insbesondere der Innenstadt einer kleinen Mittelstadt (Gotha) als Beispiel für die Lehrhaltung: die thüringischen kleinen Städte waren der Typus eines städtebaulichen Lehrverständnisses (die Arbeiten waren aber nicht nur auf Thüringen, damals Bezirk Erfurt) bezogen.
- Entwurf eines postmodernen Neubaus: Stadtseriosität und Ironie in der Platte
- Stadtbildanalyse: wider die Verarmseligung der Stadt
- Gotha: halten, was zu halten ist- mit den Menschen für einen erhaltenden Städtebau
Das kommunalpolitische Praktikum
Seit 1978 wurde Stadtsoziologie in Weimar als Lehrgebiet aufgebaut. Damit war Weimar ein Vorreiter. Kern dieses neuen Lehrgebietes war eine empirische Stadtsoziologie. Darin eingebunden war ihr Ausbildungskernstück, das sog. Kommunale Praktikum, das die Studierenden am Ende des zweiten Semesters zu absolvieren hatten. Dabei gingen die Studierenden der Fachrichtungen Städtebau und Gebietsplanung gemeinsam für vier Wochen in eine Stadt und ermittelten in verschiedenen Bereichen dieser Stadt die sozialen Verhältnisse durch Befragungen, Beobachtungen, Dokumentenauswertungen, baulich-räumlichen Analysen und Bestandsaufnahmen u.ä.m. So entstand in kurzer Zeit ein sozial-räumliches Stadtporträt, dass Erkenntnisse über die realen Verhältnisse ermöglichte und Ansätze für entwerferische Lösungen der erkannten Probleme anregte. Die Ergebnisse wurden zum Abschluss des Praktikums öffentlich vorgestellt. Natürlich bedurfte es der politischen Absicherung derartiger, in der DDR nicht unbedingt alltäglicher Arbeiten. Dabei spielten die jeweiligen Städte eine entscheidende Rolle. Die „Stadtoberen“ mussten eine solche offene Analyse wollen, sonst wäre es nicht möglich geworden. Eine dieser Städte, in denen so etwas wie ein offener Geist bei den „oberen“ herrschte, war Gotha. 1982 fand hier ein solches Praktikum statt. Der Autor war hier als studentische Hilfskraft (Betreuer) für die Studierenden des zweiten Semesters tätig gewesen.
Abb. 2
Der Schwerpunkt des studentischen Praktikums leitete sich, so die Zielstellung, aus übergreifenden Betrachtungen ab:
„Es ist ein gesellschaftliches Erfordernis, vom Wohnungsbau auf vorwiegend externen Standorten zur intensiven Stadterneuerung überzugehen. ... Das industrielle Bauen auf innerstädtischen Gebieten soll historische Architektur der Stadtkerne und die Einmaligkeit der örtlichen Gegebenheiten nicht neutralisieren. Ihre kulturelle Qualität im Sinne des wechselseitigen Aufeinanderwirkens von Wiederholbarem und Unwiederholbarem, von Unikaten und Standardisiertem, von Tradition und Neurertum muss dabei immer wieder neu bestimmt werden.“ Dem durch die historische Struktur und Bausubstanz geprägten Stadtkern wurde eine besondere Bedeutung beigemessen, dennoch wurden Stadtzentrum und Stadtrand als Teile einer Gesamtstadt betrachtet. Zwar sah die Realität des praktischen Städtebaus anders aus – mit kruden Baustrukturen wurden zumeist genau jene einmaligen Qualitäten der Städte nivelliert, doch die vermittelten Ansprüche waren wichtig. Sie konnten den Planern in der Stadtverwaltung einige Argumente liefern für ihr auf „soviel wie möglich Erhalten“ ausgerichtete Strategie, wie der damalige Stadtarchitekt, Herr Peickert einschätzt. Die Zusammenfassung der Ergebnisse vor allem der Stadtbildbetrachtung erbrachte eine fundamentale Erkenntnis, die noch ein Jahrzehnt vorher als gnadenlos rückwärtsgewandt und damit unzeitgemäß eingestuft worden wäre:
„ Die Untersuchung des Bildes, das sich die Bewohner Gothas von ihrer Stadt machen, zeigte, dass die Besonderheit und Einmaligkeit der Stadt im Bewusstsein der Bewohnern des Neubaugebietes (Plattenbauten am Stadtrand – Verf.) und der Innenstadt fast ausschließlich durch
- historisch entstandene, kulturell wertvolle Objekte zum Spazierengehen, Erholen und Verbringen von Freizeit ...
- die mittelalterlich geprägte Bebauung der Altstadt (sowohl als Gesamtensemble als auch einzelner Straßen und Bauten)
gebildet wird. Die Erhaltung dieser beiden Stadtbereiche (Altstadt und Einzelobjekte – Verf.) muß im Zentrum der stadtgestalterischen Bemühungen stehen, da hiermit das Heimischfühlen, die Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt, ihre Leistungsbereitschaft wesentlich beeinflusst werden.“ Die Funktionalisierung von Stadterneuerung zur Erhöhung der Leistungsbereitschaft der als Werktätige benötigten Bewohner gehört zum ideologischen Formulierungsritual, doch das klare Herausstellen der Bedeutung eines erhaltenen historischen Stadtkerns für die städtische, ja gesellschaftliche Zukunft ist bemerkenswert. Für die Studierenden wurde dies geradezu zur Selbstverständlichkeit: Erhaltung vor Abriß, Neubau im Kontext der vorhandenen Strukturen. Außerdem wurde der Begriff der „Stadterneuerung“ ebenso selbstverständlich gebraucht, ein Begriff, der gerade seine Karriere bei der Internationalen Bauausstellung in West-Berlin begann.
Die Stadtbildanalyse
Es gehörte zu den entwaffnendsten Methoden, die Moderne auf ihren Reduktionismus zu überprüfen. Die Bauhaus-Moderne hat in ihrem architektonischen Credo stets den Ersatz des Dekors durch neue Reichhaltigkeit in der abstrakten Formen- und Farbensprache proklamiert. Dies traf wohl auf die Architektur zu, nicht aber auf den Städtebau. Dieser geriet zu dem, was Ludwig Hilberseimer in den 1960er Jahren (!) bereits selbstkritisch als das Werden von „Nekropolis“ bezeichnete. Doch diese Selbstkritik der Väter der Bauhaus-Moderne war im gerade erst neu aufkeimenden Bauhaus-„Kult“ (in Ost und West gleichermaßen) fremd. So war es bemerkenswert, dass im Rahmen der wahrnehmungsanalytischen Übungen eine städtebaulich wie architektonisch reiche Situation, hier die Weimarer Schillerstraße, dekomponiert wurde. Über das schrittweise Wegnehmen von allem, was die Straße, den öffentlichen Raum, die Architektur ausmachte, entstand ein Bild, das einem Neubaugebiet in Plattenbauweise ähnelte. Eine Entlarvung von Armseligkeit und die indirekte Beweisführung, welch kultureller Reichtum im Städtebau schlummert, wenn er nicht reduktionistisch aufgefasst wird. Der Umkehrschluss war gewollt, vielleicht didaktisch etwas zu vordergründig, dennoch erfolgreich. Schließlich entstand der Eindruck dessen, was mit einem stadtzerstörerischen Ansatz, nämlich die Platte und das Auto unmittelbar in die Stadt „zu holen“ angerichtet werden kann. Die Wirkung war verblüffend. Diese Wahrnehmung von Stadtqualitäten wurde durch Instrumentarien der Stadtbildanalyse untersetzt. Diese Methode war am Beispiel der Altstadt von Greifswald durch die Bauakademie der DDR erforscht worden (u.a. war daran Ulrich Hugk beteiligt, der dann zu den Lehrkräften in Weimar zählte). Dieses Instrumentarium erlaubte es, städtebaulich relevante Qualitäten zu erfassen und diese als Grundlage für die Entwurfsarbeit heranzuziehen. Damit sollten die Qualitäten der alten Stadt auf eine neue Bebauung übertragbar werden. In Ansätzen wurde dies auch in Greifswald realisiert – allerdings erwies sich das Plattenbausystem als nur bedingt geeignet für eine Anpassung an die altstädtischen Strukturen. Außerdem war eine direkte Übertragung von „Gesetzmäßigkeiten“ des Bildes der alten Stadt auf eine neue Baustruktur grundsätzlich auch von anderen Faktoren abhängig. Doch die klare Orientierung auf die Qualitäten der alten Stadt wirkte prägend.
Zum Entwurf
Wie andere alte Städte war die Innenstadt von Weimar stark vom Verfall historischer Bausubstanz betroffen. Außerdem gab es im Kernbereich noch immer kriegsbedingte Baulücken. Obgleich Weimar als Kulturstadt vergleichsweise viel an Aufmerksamkeit erfuhr – hier wurde mehr als in anderen Städten für die Aufwertung der Innenstadt getan, schließlich war ja die Stadt Goethes ein internationales Aushängeschild, reichten die Mittel nicht aus, um die Kernstadt insgesamt zu sanieren. So bot sich für die Hochschule Weimar als „Patient“ an; ein dankbarer zumal, da im historischen Umfeld die Stadtreparatur, aber auch die Analyse ein reiches Betätigungsfeld offenbarte. Eines der wichtigsten Studienobjekte war der unvollendete Markt und sein Umfeld, insbesondere die Schloßgasse.
Zugleich bot sich Weimar auch als praktisches Experimentierfeld für die Hochschule an. So kann an den von Hochschullehrern gebauten Häusern auch der paradigmatische Wandel im städtebaulichen Verständnis abgelesen werden: das Hochhaus am nördlichen Rande der Altstadt, der sog. „Jacob“, ein Studentenwohnheim, zeigt die Modernität und kompositorische Herangehensweise der 1960er Jahre – eine städtebauliche Dominante sollte Blickfang werden und einen weithin sichtbaren Akzent setzen. Bereits in den 1970er Jahren wurde dieser Eingriff als störend bezeichnet. Nun war die „bewahrende Erneuerung“ das Credo für den Entwerfer.
Folgerichtig kamen bei den studentischen Entwürfen für jene Schlossgasse Lösungen zustande, die den Grundriss der Stadt aufnahmen, modifizierten, aber nicht negierten. Im Hochbau wurde eine schlichte Moderne und in Ansätzen – wie vom Autor favorisiert – ein postmoderner Entwurf gewählt.
Abb. 3
Dabei spielte der Versuch, Bautraditionen der Klassik „spielerisch“ zu verwenden eine zentrale Rolle. Manierismus in der Platte könnte das Motto gewesen sein. Eine tiefergehende Auseinandersetzung um die Eignung der Postmoderne für die Verwendung der industriellen Bauweise begleitete die Entwurfsarbeit. Ein Widerspruch, der nicht aufzulösen war, wenn die Platte als Dogma der DDR-Bauindustrie so gut wie keine Spielräume zuließ. Da fallen dann die – teueren – Sonderbauvorhaben in Berlins Gewicht, wo ja genau dieser Widerspruch versucht wurde zu lösen – letztlich ohne Erfolg, wenngleich die Einzelobjekte ihre Qualitäten haben und z. T. bis heute unverändert funktionieren. Dennoch: der hier exemplarisch zu zeigende Entwurf verdeutlicht die Hinwendung zur alten Stadt, ohne historisierend zu werden, trotzdem aber mit dem Anspruch moderne Wohnanforderungen zu berücksichtigen und – was besonders anzumerken ist – dem Auto genügend Raum zu geben. Das ist umso bemerkenswerter, da das Auto im realen Alltag eine quantitativ gesehen untergeordnete Rolle spielte. Dennoch war es in seiner zukünftigen Funktion unumstritten. Doch sollte es keine dominante Rolle übernehmen. Außerdem war auffallend, dass das mehrgeschossige Mietshaus (max. 3geschossig, plus ausgebautem Dach) als Grundtypus für ein Wohnen in der Innenstadt als normales Maß angesehen wurde. Hohe Dichte, bewahrender Stadtgrundriss, freie Innenhöfe, keine übermäßige Autokonzentration (was auch durch den nahezu unmöglichen Bau von Parkhäusern befördert wurde) sowie Anpassung industrieller Bauweisen auf innerstädtische Standorte kennzeichneten den Entwurf. Dass es keine sog. Funktionsunterlagerung (öffentliche Einrichtungen, Geschäfte u. ä. im Erdgeschoss) gab, hängt mit der im Entwurf wie in der Praxis kaum bewältigten baulichen Lösung des Ausbaus der Erdgeschosszone zusammen.
Im Zentrum stand bei diesem Beispiel jedoch die Fassade. Das Spiel mit den absonderlichen Fensterformaten rief die Kritik der damaligen Betreuer hervor. Soweit sollte das „Spiel“ nicht getrieben werden. Das beruht natürlich auch darauf, dass in der Architekturausbildung so gut wie keine Schulung an klassischen Vorbildern der Architektur stattfand. Ein Umstand, der eine kritische Auseinandersetzung mit der Postmoderne eigentlich ausschloss, da kaum jemand die Intentionen der internationalen Schöpfungen der Postmoderne verstand bzw. deuten konnte. Hier gab es die größten Defizite. Zwar gab es eine ausführliche historische Ausbildung in Bau- und Kunstgeschichte, die jedoch nicht bis eine entwerferische Auseinandersetzung reichte.
Das Erstaunen über die Möglichkeiten neotraditionellen Bauens trat anlässlich eines internationalen Architekturworkshops an der HAB im Sommer 1983 zutage. Hier hatten italienische Architekten für die Baulücke am Markt in Weimar einen neohistorischen Vorschlag unterbreitet. Keine Kopie der alten Situation, keine vergröberte Neuinterpretation (wie sie dann in den 1990er Jahren gebaut worden ist), sondern eine neue Architektur im Neorenaissance-Stil, selbst als Neuinterpretation der Neorenaissance. Das war verblüffend und passte überhaupt nicht in das Bild – Ratlosigkeit machte sich breit (neben strikter Ablehnung). Dennoch zeigte es Ansätze, die international bereits das Abklingen der Postmoderne in der Architektur anzeigten und neue, konsequente Entwurfshaltungen (Dekonstruktivismus ... Neotraditionalismus) anzeigten.
Ausblick
Die in Weimar an der HAB – bei allen inneren Widersprüchen – gelehrte Haltung nahm in wesentlichen Zügen das vorweg, was ab Ende der 1980er Jahre in die offizielle Städtebaupolitik einfloss und endgültig eine – aber vor allem nur verbale – Abkehr vom modernen Städtebau bedeutete. So heißt in der 1986 in Kraft getretenen „Komplexrichtllinie für die städtebauliche Planung und Gestaltung von Wohngebieten im Zeitraum 1986 - 1990“, herausgegeben vom Ministerium für Bauwesen:
- Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes der vorhandenen Bausubstanz
- Anpassung neuer an die vorhandenen Bebauung, im Sonderfall einschließlich der Kopie historischer Gebäude und/oder ihrer Umsetzung an einen anderen Standort
- Übernahme historischer Gestaltungsprinzipien bzw. Stilelemente in die Neubebauung einschließlich der Verwendung ausgewählter „architektonischer Zitate“ aus vergangenen Bauepochen
- Eigenständige, zeitgemäße Gestaltung der Neubebauung unter Wahrung harmonischer Beziehungen zur vorhandenen Bausubstanz
- Kontrastwirkung von neuer und alter Bebauung“.
Im letzten Punkt wirkt sich eine seit der Charta von Venedig festsitzende Haltung der Denkmalpflege aus (übrigens bis heute), nach der Neu als Neu erkennbar sein muss, und d. h. immer „modern“.
Insgesamt erscheint der Umbruch in Weimar nicht als isoliertes Ereignis, sondern als Teil eines Umbruchprozesses, der international ablief. Er dauerte in der DDR bis 1990 an. Damit war aber eine fast nahtlose Integration der Stadtplaner in das neue System der Planung der BRD möglich, der Gegensatz war geringer als man meinen möchte. Die Regularien des Baugesetzbuches brauchten nur adaptiert zu werden, es war kein fundamentaler Wechsel notwendig, die Postmoderne (nicht im stilistischen Sinne gemeint, sondern im strukturellen) hatte längst Platz gegriffen. Dennoch ist das etwas Fragwürdiges: gab es keine spezifische „DDR-Städtebaukultur“, war sie nur einem internationalen Trend gefolgt? Der Stellenwert des Boden- und Immobilienwertes in der Stadtentwicklung war natürlich ein fundamentaler. Doch das System des „wertlosen Bodens und Gebäudes“ hatte nicht zu überzeugen vermocht, im Gegenteil. Doch ist deshalb das Gegenteil richtig? Die Frage hat die Postmoderne nicht beantwortet. Da erscheinen plötzlich solche Bauensembles wie das Nikolaiviertel in Berlin plötzlich in einem ganz anderen Lichte, sind doch hier Prinzipien verwirklicht, die der postmoderne Städtebau seit mehr als zwei Jahrzehnten versucht umzusetzen: „mixed use“, autofrei und an den ÖPNV angeschlossen, städtebaulich am historischen Grundriss orientiert, Wohnen im innerstädtischen Bereich usw. Noch gilt der postmoderne Städtebau als nicht widerlegt, doch nur dann wird er eine Perspektive haben, wenn er mehr sein wird als nur die Antwort auf den kruden Modernismus im Städtebau der Nahkriegsära. Will er wirklich zukunftsfähig sein, muss er sich Fragen wie der Gestaltung des post-fossilen Zeitalters, der Stadtregion nach dem Öl, einer Dezentralisierung und Stärkung der sozialen Ausrichtung an den Bewohnerinteressen zuwenden, muss er der europäischen Stadt im Kontext der globalen Diktatur der Ökonomie eine Perspektive geben können. Da genügen die Gestaltungshaltungen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre nicht mehr, ohne sie damit über Bord zu werfen!
* Die hier aufgeführten Namen stehen auch stellvertretend für andere, da sich während der Lehre auch personelle Wechsel vollzogen und nicht alle aufgeführt werden können.
Literatur
HAB-Weimar, Sektion Gebietsplanung und Städtebau (Hg.): Sozilogische Untersuchung zur Rekonstruktion der Gothaer Innenstadt (Gotha-Bericht), Weimar, 1983
Ministerrat der DDR, Ministerium für Bauwesen: Komplexrichtlinie für die städtebauliche Planung und Gestaltung von Wohngebieten im Zeitraum 1986-1990, Berlin,1986
Wejchert, K.: Elemente der städtebaulichen Komposition, Berlin, 1978
Bauakademie der DDR/Institut für Städtebau und Architektur: Städtebau – Grundsätze, Methoden, Beispiele, Richtwerte, Berlin, 1979
Krier, R.: Stadtraum, Stuttgart, 1975
Architektur der DDR, 1, 1982
Grundmann, S.: Die Stadt, Berlin, 1984
Vorlesungsmaterialien, Studienarbeiten und Mitschriften des Verfassers, vor allem:
- Kommunale Praktika 1979, 1981, 1982
- Entwurfsübungen zur städtebaulichen Rekonstruktion und Denkmalpflege
- Vorlesungen zu Städtebau- und Architekturtheorie
Vgl. auch www.ceunet.de
Abbildungen
1 Titelseite Architektur der DDR, 1’82 (Planung für das „Andreasviertel“ in Erfurt)
2 Titelseite des Gotha-Berichtes (Kommunales Praktikum von 1981)
3 Entwurf Fassade für die Neubebauung der Schlossgasse in Weimar, 1982, unter Verwendung eines Plattenbausystems (stark modifizierte WBS 70, kombiniert mit monolithischen Ergänzungen)
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Mitteldeutschen Zeitung vom 02. Oktober 2001/ von Claus-Bernd Fiebig