Harald Kegler

Städtebau und seine energetischen Determinanten

Nicht nur die Bewohner der Europäischen Stadt durchleben gerade eine Phase, in welcher bewusst wird, dass das Zeitalter eines „Ausklinkens“ aus dem direkten oder indirekten Bezug zu der unendlichen Energiequelle, der Sonne, durch Umstellung auf eine fossile/atomare Energiebasis offenbar nur eine Episode in den langen Geschichte der urbanen Entwicklung gewesen sein dürfte. Dabei konzentriert sich die Betrachtung vornehmlich auf die anstehenden Wandlungen in der energetischen Basis der nördlichen Industriestaaten, die die Wegbereiter eines Städtebaus waren und weitgehend noch sind, der zu einem Modell für die Welt wurde – die Stadtentwicklung auf der Grundlage nicht erneuerbarer Primärenergie. Für die europäische Stadt des 21. Jahrhunderts wird die Bewältigung der energetischen Herausforderung eine Schicksalsfrage werden, doch sie hat vergleichsweise gute Chancen, diese einigermaßen verträglich zu meistern.

Die vorindustriellen Städte im mediterranen Gebiet hatten sich in ihrer Anlage direkt auf die Sonne bezogen, meist jedoch, um sich vor der Sonneneinstrahlung zu schützen und zugleich durch geschickte Belüftung des Stadtgebietes eine angenehmes Lebensklima zu erzeugen. Mit der Urbanisierung in Klimazonen mit wechselnden Jahreszeiten, wuchs der Bedarf an Heizenergie, der bis zur Einführung der Kohle im beginnenden Industriezeitalter weitgehend durch die Primärenergie Holz gedeckt wurde. Die Entfernungen von den „Holzlagerstätten“ bestimmte auch die Größe der Städte. Bei einer nur mäßigen Zunahme der Bevölkerungszahl bis zum Beginn der großen Urbanisierung im 18. und 19. Jahrhundert, konnte der Primärenergiebedarf weitgehend regional gedeckt werden. Jedoch kam es in einigen Gebieten zu Übernutzungen der Wälder, was zu partiellen Begrenzungen der Städteentwicklung führte. Die Stadtgründungen im Mittelalter basierten zudem auf den beiden Transportmitteln Schiff und Pferd. Deren Leistungsfähigkeit bestimmte die maximalen Einzugsradien der Primärenergiebeschaffung. Noch heute ist in Gestalt des europäischen Siedlungsnetzes dieser Umstand ablesbar. Erst die Einführung der kohlebetriebenen Eisenbahn mit dem energetisch hochwertigeren und leicht transportierbaren Brennstoff führte zur bis dahin unbekannten großräumigen Erweiterung der Stadt. Die Industriestadt ist energetisch das Kind der Kohle.

Als am 15. Dezember 1915 das Kraftwerk Zschornewitz, auf halbem Wege zwischen Berlin und Leipzig gelegen, seinen Betrieb aufnahm, begann ein neues Zeitalter, das der Energie(Strom)fernversorgung. (Abb. 1) Es war das erste und seinerzeit weltgrößte Braunkohle-Großkraftwerk, das elektrischen Strom in ein Fernnetz einspeiste, zunächst für das 30 km entfernte Stickstoff- und Sprengstoffwerk in Piesteritz bei Wittenberg, später für Berlin. Fast gleichzeitig begann der Aufbau von Überlandnetzen zur Versorgung der kriegswichtigen Industrien im mitteldeutschen und im rheinisch-westfälischen Gebiet, hier ausgehend vom Goldenberg-Kraftwerk bei Köln. (vgl. Reiß, 1995) Mit der Braunkohle aus dem Bitterfelder Revier wurde ab den 1920er Jahren die Reichshauptstadt in mondänes Licht getaucht. Der Mythos der „goldenen Zwanziger“ verdankt seinen Ruf zu einem nicht geringen Teil der Faszination des urbanen Lichtes. Diese Möglichkeit, eine ganze Stadt zu beleuchten, wurde zum Sinnbild für Modernität und für Zukunft schlechthin. Der Elektrizitätsfernversorgung folgte die Ferngasversorgung, meist jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg. Die Energieversorgung auf kommunaler Basis mit dezentralen Kraftwerke und Gasstationen, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden waren, wurde systematisch durch die entstehenden Großversorger in den Hintergrund gedrängt.
Die Überlandverbundnetze boten den Vorteil einer konstanten Versorgungssicherheit mit einer Grundlast, zu der in Spitzenzeiten von zentralen Einspeisepunkten aus Schwankungen im Energiebedarf ausgeglichen werden konnten. Die Energiegroßwirtschaft wurde in den 1930er Jahren in Deutschland, aber zeitgleich auch in den anderen Industrieländern, etabliert, die mit ihren monopolartigen Strukturen bis heute bestimmend wirken. Einzig der Wärmesektor blieb zum Teil im Bereich kommunaler Unternehmen. Die Versorgung mit Fern- und Nahwärme entwickelte sich seit den 1950er und 1960er Jahren im Zuge des Baus der Großwohnsiedlungen, ja bildete deren günstige wärmeenergetische Voraussetzung. Die vorhandenen Stadtteile im Westen Deutschlands erhielten in jener Zeit schrittweise Ölheizungen. Viele Altbaugebiete blieben noch lange Zeit durch feste Brennstoffe versorgt. In der DDR bildete die einheimische Braunkohle die fast ausschließliche Grundlage für die Energieversorgung, eine Art Autarkie mit ökologisch verhängnisvollen Folgen. Erst seit den 1970er Jahren trat das Erdgas als Primärenergie für die Wärmeerzeugung in den Städten in nennenswertem Maße in Erscheinung, das zu erheblichen ökologischen Verbesserungen beitrug.

Begünstigte die zentrale Versorgung mit Strom, Kohle und später Gas die Ausdehnung der Städte unabhängig von der lokal verfügbaren Energie, so forcierte das Automobil mit der Nutzung der im Benzin gespeicherten Energie als „mobiler“ Quelle eine Ausdehnung der Städte in historisch ungekanntem Ausmaß. Zunächst war entlang der Trassen von Eisen- oder Straßenbahnen die Stadterweiterung erfolgt, wobei sich mit dem Übergang von einer direkten Nutzung der Kohle zum Antrieb der Lokomotiven zur Umwandlung der Energie in elektrischen Strom auch der Wirkungskreis der Eisen- bzw. Straßenbahnen als Massentransportmittel vergrößerte. Es entstand das stadtregionale Modell der punktachsialen Entwicklung.

Die Idee der autogerechten Stadt, wie sie bereits in den 1920er Jahren formuliert worden war, konnte ihren Siegeszug nach dem 2. Weltkrieg nur deshalb so wirkungsvoll entfalten, weil die primäre Quelle, das Erdöl, reichlich sprudelte und der Markt mit billigem Öl förmlich überschwemmt wurde. Die raumzeitliche Entgrenzung der Stadt in Form von Suburbia, das sich bis zum Sprawl auswuchs, konnte auf dieser energetischen Determinante nun durch das Auto vollzogen werden. (vgl. Hayden, 2003) Das Ergebnis dieser systematisch von den Öllieferanten und der Autoindustrie vorangetriebene Vorgang war ein neuer Stadttyp, jener Sprawl („Zwischenstadt“) – energetisch das Kind des Öls. (Sieverts, 2001) Der Staat beförderte dies, ganz im Geiste der Modernität, durch den Bau der Autobahnen. Zugleich begann sich der ländliche Raum mit den Dörfern und Kleinstädten zu wandeln. Sie gewannen immer mehr den Charakter von Schlaf-Vorstädten, die mit dem Auto erschlossen wurden. Das radikale Aufbrechen der traditionellen Stadtvorstellung als einer dezentral organisierten, räumlichen Einheit konnte letztlich nur deshalb real Platz greifen, weil die Ressourcenbasis des Städtebaus in den Hintergrund trat, solange jedenfalls, bis die „Grenzen des Wachstums“ langsam ins Bewusstsein zu treten begannen. Mit dem Beginn der Diskussion über die möglichen Grenzen der Energieressourcen, vor allem durch den Club of Rome bzw. das Worldwatch Institute initiiert, begann auch schrittweise die Sicht auf die energetischen Determinanten des Städtebaus Platz zu greifen. (vgl. Brown, 1992)

Gravierende Gefahren für die Städte lauern in den zunehmend unberechenbarer werdenden Risiken, die sich aus dem aktuellen Peak Oil und dem Klimawandel daraus ergeben. Mit dem „Peak Oil“ ist eine vollkommen neue Situation für die energetische Abhängigkeit der Städte eingetreten. Die Märkte reagieren auf die nicht mehr zunehmende Erschließung neuer Ölvorkommen mit Preissteigerungen. Deren rasanter Anstieg in den letzten Jahren kann als eindeutiges Indiz für einen unumkehrbaren Prozess gewertet werden. (Campbell, 2002, S. 188 ff) Dies ist ein historischer neuer Zustand. In welchem Maße die Preise steigen werden, ist nicht genau vorhersagbar. Doch die anhaltende Abhängigkeit der Städte von den fossilen Determinanten führen zu einer fast ausweglosen wirtschaftlichen und sozialen Situation. Dies hat gravierende Auswirkungen auf die städtebaulichen und Siedungsstrukturen. Zudem sind die heutigen Städte anfällige Systeme für die Folgen des Klimawandels. Hier konzentrieren sich viele Menschen an tendenziell gefährdeten Orten – an Flüssen, in Tälern, an Küsten, aber auch in einst fruchtbaren Gebieten, die zunehmend trocken werden.

Die totale Abhängigkeit der Städte, ihrer Bewohner und der Wirtschaft von diesen zentralistischen Strukturen der Energiebereitstellung, von der ungelösten Entsorgungsfrage für Atommüll und von der Energieverteilung schränkt die kommunale Handlungsfähigkeit zunehmend ein. (Scheer, 2005, S. 132 ff) Die mangelnde Effizienz verstärkt durch die Energieverschwendung die gesellschaftlich verfügbaren Ressourcen, was wiederum die Zukunftsfähigkeit der urbanen Räume minimiert. So machen die Bereiche Verkehr, Gebäudenutzung, Industrie und Landwirtschaft (als Versorger der Städte) folgende Energiebilanz aus. So stellen der Verkehr mit 4%, mit 14 % die privaten Haushalte, mit 10% die Industrie und mit 6 % die Kleinverbraucher (Wagner, 2007, S. 60) nur einen Teil des Energieverbrauchs in den Städten dar. Der größte Teil „verschwindet“ wegen ineffizienter Kraftwerke und Verbraucherstrukturen, fehlender Nutzung der Abwärme und technologisch bedingten Verlusten bei der Energieübertragung. Das gesamte Energiesystem der Industriestaaten ist ineffizient – die Städte und Regionen haben darunter zu leiden. Es gibt kaum stoffliche und energetische Kreisläufe, was aber eine Voraussetzung für einen zukunftsfähigen Urbanismus wäre.

Es gibt jedoch ermutigende Zeichen. In jüngster Zeit gewinnt ein „energetischer Stadtumbau“ an Bedeutung. Die neuen technologischen Möglichkeiten eröffnen nunmehr die Chancen einer historisch neuen Dezentralität auf Basis von Effizienz und nachhaltiger Nutzung regenerativer Primärenergie in regionalen Kreisläufen. (vgl. Gust, 2007; Reutter, 2007) Dies dürfte zum neuen Sinnbild für die Zukunft der Städte werden. Das erste praktische Beispiel einer auf diese Weise fungierenden Stadt in Europa ist das österreichische Güssing, eine heute energieautarke Kommune. (Abb. 2) Weitere erste Konturen auf regionale Ebene zeigen sich in Deutschland in zahlreichen Initiativen, die sich auf den Weg zur bilanzierten Autarkie („100%-Regionen“) begeben haben. Eine von diesen ist die Region um das inzwischen stillgelegte Kraftwerk Zschornewitz im mitteldeutschen Raum. (Bock, Kegler, Weber, 2008) Damit werden sich die energetischen Determinanten des Städtebaus grundlegend wandeln, sodass die Stoff-, Wirtschafts- und Energiekreisläufe in die Regionen auf neuer technologischer Grundlage zurückkehren. (vgl. www.100-ee.de ) Das eröffnet in neuer Weise den dichten, kompakten, wenig zersiedelten, dezentral versorgten ( und entsorgten) sowie mit dem ÖPNV bzw. Elektroautos erschlossenen Städte, kurz dem Typus der solaren (europäischen) Stadt die Chancen, ein optimales Modell für die Stadt der Zukunft zu werden. (Everding, 2007, S. 12 ff) Dies wäre – so die These – auch eine resistente Stadt, die sich den Folgen des Klimawandels anpassen kann, also zugleich vor- und nachsorgend fungiert.

Literatur

Bock, W., Kegler, H., Weber, R. P. (2008): Bioenergieregion in der Mitte Ostdeutschlands, Wittenberg (unveröff.)
Everding, D., Hg. (2007): Solarer Städtebau, Stuttgart
Gust, D., Hg. (2007): Wandel der Stromversorgung und räumliche Politik (ARL), Hannover
Reutter, O. Hg. (2007): Ressourceneffizienz – Der neue Reichtum der Städte, München
Wagner, H.-J. (2007): Was sind die Energien des 21. Jahrhunderts? Der Wettlauf um die Lagerstätten, Frankfurt/M.
Scheer, H. (2005): Energieautonomie – Eine neue Politik für erneuerbare Energien, München
Hayden, D. (2003): Building Suburbia, New York
Campbell, C. u.a., Hg. (2002): Ölwechsel – Das Ende des Erdölzeitalters und die Weichenstellung für die Zukunft, München
Sieverts, T. (2001): Zwischenstadt, Basel, Boston, Berlin
Reiß, H. (1995): Kraftwerk und Kolonie Zschornewitz, Dessau
Brown, L., Hg. (1992): Zur Lage der Welt, Frankfurt/M.

Internetseiten

www.100-ee.de
www.denet.de

Abbildungen

Fotos: Harald Kegler

Abb. 1 – Zschornewitz, Turbinenhalle im einstigen Großkraftwerk und heutigen Industriedenkmal, 2007
Abb. 2 – Güssing, Biomasse-Pyrolysekraftwerk der ersten energieautarken Stadt in Europa, 2006

Erschienen in:
Kegler, Harald (2008): Städtebau und seine energetischen Determinanten, in: Becker, A.; Jung, K.; Schmal, P. C. (Hg.): New Urbanity – Die europäische Stadt im 21. Jahrhundert, Frankfurt/M., S. 59-63

 

weitere Artikel

STADTVISIONEN 1910|2010
Berlin Paris London Chicago
100 Jahre „Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin“

"Nur eine gute Idee? Das industrielle Gartenreich Dessau-Wörlitz-Bitterfeld"

Gewonnene Planlosigkeit
Planungsrundschau 20
„20 Jahre Stadt- und Regionalplanung seit der deutschen Wiedervereinigung“

Rezension
Dubai - Stadt aus dem Nichts

Bilanz und Ausblick anlässlich des 100. Jahrestages der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin

Landschaftspark Thüringen
Eine geplante Landschaft – der Ansatz für den planungshistorischen Diskurs

Städtebau und seine energetischen Determinanten

Mehr als Marketing

Stadt Dommitzsch – auf dem Wege zur energieautarken Kommune:

New Bombay/Navi Mumbai sowie Hiranandani Gardens

CEU – Germany - Ranking: Urban Design

Experiment und Alltag: Der Beitrag zur EXPO 2000 – ein Zwischenfazit auf dem Wege zur Bilanz

Planen ohne Plan

Aufbruch in die „alte Stadt“. Zur Städtebauausbildung an der HAB Weimar Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre - eine persönliche Momentaufnahme

Zehn Jahre Ferropolis – Fünf Giganten finden ihren Weg

Charrette Verfahren zur Reurbanisierung

Ferropolis – Studie:
Dokumentation – Erfahrungen – Ausblick eines außergewöhnlichen Projektes
Im Auftrage der LMBV - Dr.

NRW Urbanism
Die Charrette als Basis verlässlicher Entwicklung

Planungs-Studie Aschersleben:
Vom historischen Zentrum in die Landschaft – das Modell eines „TRANSECTes“

Konzeption für den Projektablauf “Neues Leben am Markt”, Merseburg, 2003-2004

Sonne, Meer und Sterne:
Florida - die weltgrößte, wachsende Urlauberstadt

Städtebaureform in den USA

Europäische Stadt, Zwischenstadt und New Urbanism

New Urbanism als Strategie für die regionale Stadt?

Perspektiven des Stadtumbaus

New Urbanism – Bewegung und Strategie für die postmoderne Stadt

New Urbanism als Strategie für die regionale Stadt?

Von der “Überlandplanung” zum „innovativen Milieu“ -
Regionalplanung zwischen Genese und “Welt-Konferenz der Regionen“
et - Magazin der Regionen 2/2000, S.58 - 61

Linde für die Stadt aus Eisen
Mitteldeutschen Zeitung vom 02. Oktober 2001/ von Claus-Bernd Fiebig