Jahrbuch Stadterneuerung 2010

Harald Kegler, Harald Bodenschatz

STADTVISIONEN 1910|2010
Berlin Paris London Chicago
100 Jahre „Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin“

Welch ein Auftritt des Städtebaus – vor einhundert Jahren! Vom 1. Mai bis zum 15. Juni 1910 präsentierte sich das damals noch junge Fachgebiet erstmals und umfassend der Öffentlichkeit mit der „Allgemeinen Städtebau-Ausstellung“ in Berlin-Charlottenburg. (Goecke, 1910:74) Es war ein fulminanter Auftritt. Nicht nur die nationale Städtebauelite zeigte ihre Werke, es war vielmehr die erste internationale Präsentation der Errungenschaften des neuen Städtebaus. Die wichtigsten Vertreter aus Europa und den USA waren nach Berlin angereist und zeigten die maßstabsetzenden Planungen bzw. gebauten Zeugnisse des Städtebaus. Neben Berlin, das sich damals als eines der weltweit bedeutendsten Laboratorien des Städtebaus vorstellte, waren dies vor allem Paris, London und Chicago, die die internationale Benchmark des Fachgebietes darstellten. Nicht nur die Erstmaligkeit der öffentlichen Darstellung oder der Umfang des gezeigten Materials und dessen Qualitäten lassen diese Ausstellung zu einer Besonderheit in der Geschichte des Städtebaus werden. Sie markiert zugleich den Beginn einer Jahrhundertdebatte, die sich heute – in anderer Form und Ausprägung, aber dem Wesen nach ähnlich zeigt: kompakte Stadt versus suburbane Besiedlung; anders gesagt: Pariser Großstadt versus Londoner Gartenstadt, um im damaligen Verständnis zu bleiben. Doch es gab noch einen anderen Weg, der um 1910 im Vordergrund stand und der sowohl die kompakte Stadt wie auch die Erweiterung mittels „Nebenmittelpunkten“, also neuen „Stadtteilen“, oft in Form von Garten-Vororten gestaltet, an den strahlenförmigen Achsen der Eisenbahntrassen und Hauptverkehrsstraßen, verband und so die explosionsartige Ausbreitung der Industriestadt in das Umland kanalisieren sollte. (Goecke, 1911:3ff.) Dieser strategische Planungsansatz wurde besonders am Beispiel Berlins in der Ausstellung vorgeführt.

Zugleich stellte das sich konsolidierende Fachgebiet mit dieser Ausstellung ihren institutionellen und inhaltlichen Reifegrad unter Beweis – die Planung der Städte hatte sich zu einem eigenen beruflichen und wissenschaftlich-künstlerischen Fachgebiet an der Nahtstelle von Architektur und Ingenieurwesen, von Kommunal- und Sozialpolitik, von Wirtschafts- und Freiraumentwicklung formiert, das inzwischen auch an verschiedenen Hochschulen gelehrt wurde. Fachbücher, eine eigene Zeitschrift, „Der Städtebau“ – seit 1904 herausgegeben, erste berufsständige Vereinigungen und eine in vielen Städten bereits institutionell verankerte Planungspraxis markieren den erreichten Stellenwert des Städtebaus nicht nur, aber besonders in Deutschland. So erschien es nahezu folgerichtig, dass mit einer solchen Ausstellung dieses Fachgebiet und die Ergebnisse der Planungsarbeit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Mit immerhin 65.000 Besuchern zählte die Berliner Schau zu einer der bemerkenswertesten Ausstellungen der damaligen Zeit. (Kegler, 1987:148 ff)

Die Allgemeine Städtebau-Ausstellung Berlin 1910 und der Wettbewerb Groß-Berlin 1908/10

Präsident der Städtebau-Ausstellung war der Oberbürgermeister von Berlin. Im Ausschuss zur Ausstellung wirkten so illustre Personen wie Ernst von Borsig und Werner von Siemens mit, aber auch die Oberbürgermeister von Charlottenburg, Rixdorf und Wilmersdorf sowie andere kommunale Vertreter. Ein Groß-Berlin, wie wir es heute kennen, gab es damals noch nicht, der Raum Berlin war in kommunaler Hinsicht zersplittert. Generalsekretär der Ausstellung war Werner Hegemann, der bedeutendste transatlantische Brückenbauer des Städtebaus. Standort der Ausstellung war die Hochschule der Künste, heute Universität der Künste, in Charlottenburg. Noch im gleichen Jahr war die Ausstellung in Düsseldorf zu sehen, und im Herbst 1910 wurden Teile der Ausstellung in London anlässlich der International Town Planning Conference präsentiert. Die von Werner Hegemann geschriebene zweibändige Dokumentation der Ausstellung, die die internationale Dimension eindrucksvoll betonte, ist ein Meilenstein der Städtebaugeschichte. (Hegemann, 1911 und 1913)

Die Großstadt Berlin verglich sich damals selbstbewusst und mit großem Erfolg mit anderen Modellstädten des Städtebaus: in Deutschland vor allem mit München, Hamburg, Nürnberg, Köln und Stuttgart, in Europa insbesondere mit Wien, Stockholm und eben mit Paris, London, und in den USA mit Chicago sowie mit Boston. Die Ausstellung hat grundlegende städtebauliche Beiträge für die Ordnung der explodierenden Großstadt, der Stadtregion im industriellen Zeitalter, geliefert. Sie bot einen Überblick über den Städtebau in Europa und den USA und war immer wieder eine Herausforderung auch für folgende Ausstellungen – bis heute. Damit war sie ein Schlüsselereignis für die Städtebaudebatte im 20. Jahrhundert.

Die Ausstellung fußte wesentlich auf dem 1908 ausgeschriebenen und 1909 entschiedenen Wettbewerb für Groß-Berlin, dem damals international bedeutendsten städtebaulichen Wettbewerb, an welchem namhafte Städtebauer vor allem aus Berlin teilgenommen hatten. Angesichts des offensichtlich chaotischen städtebaulichen Wachstums im Großraum Berlin bildete sich 1907 mit Unterstützung des Architekten-Vereins zu Berlin ein Ausschuss unter Vorsitz von Otto March, der sich für die Vorbereitung eines Ideenwettbewerbs um einen neuen Plan für Groß-Berlin einsetzte. Der schließlich im Oktober 1908 ausgeschriebene Wettbewerb Groß-Berlin bot die Gelegenheit, grundsätzliche Positionen zur Gestaltung der Stadtregion zu präsentieren. Nach heftigem Streit innerhalb des 21-köpfigen Preisgerichts wurde am 19. März 1910 kein erster Preis verliehen. Zwei erstrangige Preise erhielten zum einen Hermann Jansen und zum anderen die beiden Hochschullehrer der TH zu Berlin, Josef Brix und Felix Genzmer, zusammen mit der Hochbahngesellschaft.

Die Ergebnisse des Wettbewerbs umfassten Vorschläge für die drei großen Teilräume der Stadtregion:
• für eine weitere Umgestaltung des Zentrums in Richtung Monumentalstadt,
• für urbane Alternativen zur bisherigen Miethausbebauung sowie
• für neue Gartenstädte und Kleinsiedlungen im suburbanen Raum.

Strukturiert werden sollten diese drei Teilräume der Stadtregion durch einen Um- und Ausbau des Fernbahn- und Schnellbahnsystems. Eine erneuerte Verkehrsinfrastruktur, aber auch die großen, radialen Ausfallstraßen sowie grüne Freiflächenkeile dienten der Ordnung der ständig wachsenden Stadtregion. Die so realisierte stadtregionale Perspektive war von außerordentlicher Bedeutung und Wirkung, sie schloss eine isolierte kleinräumige Betrachtung von vorneherein aus.

Der Schwerpunkt des Wettbewerbs lag eindeutig auf der monumentalen Umgestaltung des Zentrums. Der Architekt Bruno Schmitz hat seine für heutige Augen manchmal befremdlichen Visionen eindringlich ins Bild gesetzt. Es ist aber wichtig zu wissen, dass die neuen Großbauten nicht die imperiale Größe des Staates zum Ausdruck bringen sollten, sondern die Größe der Kommune. Solche „monumentalen Anlagen“, so meinte Theodor Goecke damals, sollten „den Fremdenstrom anziehen und Berlin als geistigen Mittelpunkt in erster Linie seiner Vororte, weiterhin ganz Deutschlands, würdig“ herausheben. (Goecke, 1911:18 ff)

In der Innenstadt wurde nach urbanen Alternativen zu den äußerst dicht bebauten Miethausblöcken mit ihren Hinterhöfen gesucht. Vorgeschlagen wurde u.a. eine Blockrandbebauung ohne Hinterhöfe, aber auch eine sog. gemischte Bauweise, d.h. eine Mischung von mehrgeschossigen Miethäusern im Außenbereich und niedriggeschossigen Reihenhäusern im Innenbereich. Im suburbanen Raum sollten durchgrünte, niedrig geschossige Wohnanlagen realisiert werden. Von großer Bedeutung war die Idee der Gartenvorstadt. Viele Reformer orientierten darüber hinaus explizit auf sog. Kleinsiedlungen mit kleinen Parzellen und kleinen Häuschen, die auch weniger begüterten Mittelschichten ein Leben im Grünen ermöglichen sollten.

Die Ergebnisse des Wettbewerbs waren aber keinesfalls ein Plädoyer gegen die Großstadt und für deren Auflösung, sondern sie orientierten auf deren Verbesserung und Rationalisierung, auf eine gestufte Großstadt mit reformierten urbanen Baublöcken in der Innenstadt und mit Garten-Vororten um kleine Zentren („Nebenmittelpunkten“) im suburbanen Raum. Angesichts der Konkurrenzverhältnisse des privaten Städtebaus war an eine Umsetzung der meisten Vorschläge allerdings nicht zu denken. Denn eine politische Voraussetzung der Umsetzung solcher Visionen wäre der Zusammenschluss aller beteiligten Gemeinden gewesen. Auf Groß-Berlin mussten die Hauptstadtbewohner allerdings noch etwas warten – bis 1920. Damit begann eine neue Entwicklungsphase der Planung, die sowohl auf die Landesebene übergriff, zugleich aber auch durch eine zunehmende disziplinäre Aufsplitterung gekennzeichnet war. Diese Geschichte wird in der Ausstellung aus methodischen Gründen ausgeblendet.

Ein Pilotprojekt im Rahmen der „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“

Das Ausstellungsereignis vor 100 Jahren ermuntert dazu, nach heutigen Tendenzen im internationalen Städtebau zu fragen und diese den historischen Fragestellungen gegenüber zu stellen. Damals ging es darum, Antworten auf die Herausforderungen einer chaotisch wachsenden Großstadt der Industriegesellschaft zu finden. Heute, nach 100 Jahren, präsentiert sich Berlin erneut im internationalen Umfeld – diesmal als Modell einer Metropole der postindustriellen Gesellschaft im Zeichen des Klimawandels. Mit der großen Städtebau-Ausstellung 1910 verglich sich Berlin erstmals und erfolgreich mit den Großstädten Europas und der USA. Heute wie vor hundert Jahren spielte und spielt die Technische Hochschule zu Berlin bzw. die Technische Universität Berlin, die Trägerin der aktuellen Ausstellung, eine Schlüsselrolle in der Städtebaudebatte.

Das Ausstellungsprojekt zum 100jährigen Jubiläum der „Allgemeinen Städtebau-Ausstellung Berlin 1910“ wurde durch das Schinkel-Zentrum und das Architekturmuseum der TU Berlin entwickelt. Dieses ist ein Pilotprojekt der Nationalen Stadtentwicklungspolitik und zugleich ein Beitrag der TU Berlin zum Berliner Wissenschaftsjahr 2010. Die Initiatoren der Ausstellung verkörpern mit Harald Bodenschatz und Hans-Dieter Nägelke (TU Berlin) in Kooperation mit Harald Kegler (Bauhaus-Universität Weimar) und Wolfgang Sonne (TU Dortmund) ein interdisziplinäres Team. An der TU wurde eine wissenschaftliche Kerngruppe eingerichtet, der weiterhin Dorothee Brantz, Dieter Frick, Aljoscha Hofmann, Corinne Jaquand, Cordelia Polinna, und Barbara Schönig angehören. Darüber hinaus werden weitere Experten in die Ausstellung eingebunden. Als Kuratorin konnte Christina Gräwe gewonnen werden, die an zahlreichen Ausstellungen des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main mitgewirkt hat. Zusätzlich wird die Ausstellung durch Sabine Konopka für die Fakultät Planen Bauen Umwelt begleitet werden.

Die Ausstellung STADTVISIONEN 1910|2010 wird im Architekturforum der TU Berlin am Ernst-Reuter-Platz vom 7. Oktober bis 3. Dezember 2010 präsentiert werden. Sie wird herausragende und faszinierende Dokumente des Architekturmuseums der TU Berlin und weiterer internationaler Sammlungen zeigen. Die Ausstellung wird mit Bundesmitteln für den Nationalen Strategieplan für eine integrierte Stadtentwicklungspolitik (Nationale Stadtentwicklungspolitik) durch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) gefördert. Innerhalb der TU Berlin wird sie durch die Institute für Architektur, Landschaftsarchitektur und Umweltplanung, Soziologie sowie Stadt- und Regionalplanung, das Center for Metropolitan Studies, das Architekturmuseum und das Innovationszentrum „Gestaltung von Lebensräumen“ unterstützt. Von außerhalb werden Arbeitsressourcen durch das Fachgebiet Raum- & Infrastrukturplanung der Technischen Universität Darmstadt, den Lehrstuhl Geschichte und Theorie der Architektur der Technischen Universität Dortmund und das Labor für Regionalplanung, Dessau, bereitgestellt.

Die Ausstellung STADTVISIONEN 1910|2010 zeigt Berlin im Kontext der drei Großstädte London, Paris und Chicago, die damals wie heute Schlüsselpositionen im Städtebau einnehmen. Neben den großen Plänen von 1910 werden die aktuellen und künftigen Projekte präsentiert. London war 1910 ein Mekka der Gartenstadtbewegung. Ziel war eine geordnete Dezentralisierung der Großstadt. 2010 zeigt sich London ganz anders – als Modell der Rezentralisierung, der erfolgreichen Renaissance des Zentrums. 1910 wurde Paris durch die großen Pläne und Visionen von Eugène Hénard geprägt. „Grand Paris“ setzt heute vor dem Hintergrund einer Initiative des Staatspräsidenten Sarkozy Zeichen für eine neue nationale Stadtentwicklungspolitik. In Chicago wurde 1909 der weltberühmte Plan von Daniel Burnham zum Umbau der chaotisch gewachsenen Großstadt vorgelegt. Auftraggeber war damals der Commercial Club of Chicago. Mit Chicago Metropolis 2020 liegt ein neuer strategischer Plan des Commercial Club zur nachhaltigen Entwicklung der Stadtregion vor. 2009 präsentierte sich Chicago zudem anlässlich des 100. Jahrestages des Burnham-Plans der Öffentlichkeit mit Ausstellungen, Konzerten und Vorträgen. Dieser berühmte Plan fand auch in der Berliner Städtebau-Ausstellung 1910 große Aufmerksamkeit.

Die vier Großstädte verkörpern eine transatlantische Perspektive, die 1910 sehr wichtig war und heute angesichts der Veränderungen in den USA unter der Präsidentschaft von Barack Obama wieder an Gewicht gewinnt. Die Entwicklung der Großstädte in Europa und den USA ist angesichts der dort verbrauchten Ressourcen, aber auch wegen der dort entwickelten zukunftsorientierten städtebaulichen Konzepte von weltweiter Bedeutung. Obgleich die Dynamik des Städtebaus heute mehr im nahen und fernen Osten zu liegen scheint, zeigt ein Vergleich der vier ausgewählten Städte, dass die Metropolen der frühindustrialisierten Länder, also in Westeuropa und den USA, nicht nur nicht in den Hintergrund getreten sind, sondern vielmehr hinsichtlich der künftigen Herausforderungen, die an einen nachhaltigen Städtebau gestellt werden, geradezu hochaktuell sind. Sie vermögen es, hundert Jahre nach ihrem bemerkenswerten Auftritt erneut Maßstäbe zu setzen. Zugleich stehen sie, damals wie heute, stellvertretend für Tendenzen im Städtebau Europas und in den USA.

 

Der Kern der Ausstellung 1910|2010

Die Ausstellung rückt die paradigmatische Ausrichtung des Städtebaus 1910, nämlich das Ringen zwischen dem angelsächsischen und dem französischen Weg im Städtebau bei der Bewältigung der Herausforderungen des industriell bedingten Wachstums der Städte, sowie des Städtebaus 2010, also den Übergang zu einem an der Nachhaltigkeit orientierten Städtebau für die postindustrielle Stadt, in den Mittelpunkt.

Bis zum Ersten Weltkrieg konkurrierten hinsichtlich der städtebaulichen Entwicklung in der internationalen Debatte Paris und London als Vorbilder: Paris – in Grenzen auch Wien – galten als Vorbild für dichten, urbanen Städtebau, London als Vorbild für suburbanen Städtebau. Den meisten Wohnungs- und Städtebaureformern ging es damals schon längst nicht mehr nur um die Besserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter, sondern um eine fundamentale, großstadtkritische Neuorientierung des Lebens in der Stadtregion. Attackiert wurde jegliche Form kompakten, urbanen Wohnens, um das Ziel eines verallgemeinerten suburbanen Wohnens durchzusetzen. Die Kleinsiedlung, die einfache Schwester der bürgerlichen Garten-Vorstadt, war für viele Reformer die letztlich einzige akzeptierbare Alternative zur „Mietkasernenstadt“. Die erstrebenswerte Stadt erschien in dieser Optik in Kleinsiedlungen, bürgerliche Garten-Vororte und Landhausquartiere aufgelöst, die sich locker um eine kompakte City gruppierten und, im Zuge des Ausbaus der Verkehrsmittel, immer tiefer in die Region wachsen sollten – ganz nach anglo-amerikanischem Vorbild. Dieses leidenschaftliche Plädoyer findet sich als durchgängiger Tenor in den beiden Bänden von Hegemann, der dieser Ausstellung mit seinen Deutungen im Nachhinein einen bestimmten Akzent verlieh, welcher 1910 so nicht ablesbar gewesen war.

Bis zum Ersten Weltkrieg war das große Projekt der Dezentralisierung der Großstadt noch ein oppositionelles Programm. Das änderte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg grundlegend: Nun wurde es ein staatliches Aktionsprogramm, ein Programm der Kampfansage an die kompakte, urbane Stadt. Die damals begründete Vorstellung von Reform und Fortschritt im Städtebau prägte die deutsche fachliche und politische Programmatik für lange Zeit – zum Teil bis heute. Der fruchtbare Wettbewerb zwischen einem reformierten urbanen Städtebau einerseits und einem auf Garten-Vororte orientierten suburbanen Städtebau andererseits wurde nach 1918 zum großen Teil zugunsten einer einseitigen Ausrichtung auf die Dezentralisierung der Großstadt aufgegeben. Endgültig setzte sich diese Orientierung bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der umfassenden Automobilisierung der Gesellschaft durch. Ausgehend von den USA breitete sich der suburban Sprawl vor allem seit den 1960er Jahren auch in West-Europa aus. Der Sprawl stimuliert wiederum insbesondere seit den 1990er Jahren die Diskussion um eine Reurbanisierung der Stadtagglomerationen.

Die großen Städte heute sind einem tief greifenden wirtschaftlichen und sozialen Wandel ausgesetzt. Sie stehen vor neuen, gewaltigen Herausforderungen. Die Stichworte sind bekannt: Globalisierung, Klimawandel, Alterung der Gesellschaft, Verkleinerung der Haushalte, zunehmende soziale Ausdifferenzierung, abnehmende Ressourcen der öffentlichen Hand, partielle Schrumpfung der Städte. Relativ kurze Ausbildungszeiten, klar definierte Lebensstile bestimmter Altersgruppen, stabile Arbeitsplätze, ein bestimmter Tagesrhythmus, ein bestimmter Jahresrhythmus, eine feste Verortung in politischen und sozialen Institutionen, feste persönliche Bindungen, relative stabile Einnahmequellen der öffentlichen Hand, niedrige Energiepreise usw. – all diese Merkmale der westeuropäischen/nordamerikanischen Industriegesellschaften der Nachkriegszeit sind im Verschwinden begriffen. Die künftigen Konturen einer „postindustriellen Stadtregion“ bleiben noch unscharf, denn sie werden ja von uns gestaltet – im Rahmen der vorgefundenen Verhältnisse. Dass sie möglichst „nachhaltig“ gestaltet werden sollen, darin ist sich die Fachwelt einig. (vgl. Bodenschatz, 2003:108-110)

Das Thema Nachhaltigkeit, in den 1990er Jahren entfaltet, verdichtete sich im zurückliegenden Jahrzehnt angesichts der Entwicklung der Energiepreise und der zuspitzenden Debatte um den Klimawandel zu einem neuen Paradigma. Damit schien auch ein Bruch mit dem Städtebau der industriellen Moderne vollzogen zu sein. Es blieben jedoch Widersprüche: Die Zersiedelung und der autogerechte Umbau der Stadtregionen gingen nahezu ungehemmt weiter, die soziale Spaltung der Städte wurde nicht überwunden, auch nicht in Europa und den USA, im Gegenteil. Selbst das Schrumpfen der Einwohnerzahlen hat nicht zur Eindämmung der Zersiedelung geführt, wie die ostdeutschen Städte zeigen. In den Innenstädten bewirken Aufwertungsprozesse soziale Verdrängung und neue räumliche Spaltungen. Die großen monotonen und insbesondere sozial homogenen Anlagen des sozialen Wohnungsbaus in Europa wie in den USA bleiben eine Herausforderung, auf die ganz unterschiedliche Antworten – Umbau und/oder Abriss gefunden werden. Selbst das städtebauliche kulturelle Erbe gerät wieder unter Druck. Schönheit der Stadt – das scheint weiterhin ein exklusives Gut für Besserverdienende zu bleiben.

Berlin Zwischennutzung Spreeufer

Die Aalborg-Charta, verabschiedet auf der gleichnamigen Konferenz von 1994, kann als Ausgangspunkt für die öffentliche Durchsetzung des Leitbilds „Nachhaltige Stadt“ angesehen werden. Die aus dieser Konferenz abgeleiteten Folgeinstitutionen und Netzwerke haben sich inzwischen zu einer festen Größe im europäischen stadtpolitischen Diskurs entwickelt. In der Charta wurde die seit dem Brundtlandbericht der UN von 1987 und der Rio-Konferenz 1992 propagierte Politik einer globalen Nachhaltigkeit auf die kommunale Ebene gehoben. Inzwischen ist nachhaltige Stadtentwicklung ein offizieller Programmbaustein der EU-Politik und im EUREK, dem europäischen Raumentwicklungskonzept, fest verankert. Die 2007 verabschiedete, im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorbereitete Leipzig-Charta der Europäischen Union plädierte für das Konzept der nachhaltigen Entwicklung der „europäischen Stadt“. Die nationale Städtebaugesetzgebung, z. B. in Deutschland, formuliert grundlegende Prinzipien, die denen der Nachhaltigkeit entsprechen. Spätestens seit der Hurrikan-Katastrophe von New Orleans (2005) kann zudem von einer sich verstärkenden Nachhaltigkeitsdiskussion auch in den USA gesprochen werden.

Grundsätzlich gilt die durchgängige Akzeptanz des Nachhaltigkeitsansatzes auch für die akademische Bildung und die städtebau- bzw. planungsrelevanten Fachvereinigungen wie etwa die Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL) oder die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung (SRL). Die Interpretationen jedoch, was konkret unter Nachhaltigkeit – jener nicht ganz treffenden deutschen Übersetzung von sustainability – verstanden wird, weichen stark voneinander ab. Oft verkümmert Nachhaltigkeit sogar zu einer Leerformel, was die Durchsetzungskraft eines nachhaltigen Städtebaus schwächt. (Hübler/ Kaether, 1999:125) Mit der Neuen Charta von Athen (2003) ist allerdings ein für das Selbstverständnis der europäischen Planungsverbände maßgebliches Dokument erarbeitet worden, das sowohl eine Abkehr vom modernen Städtebau als auch eine Hinwendung zur Nachhaltigkeit propagierte.

Durch Vertreter der Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden viele konkrete, nicht immer durchschaubare und oft nur eindimensionale Lösungsvorschläge eingebracht. Mehr Dichte? Weniger Zersiedelung? Mehr Stadtgrün? Mehr Solarzellen? Mehr Wärmedämmung? Mehr Nutzungsmischung? Mehr soziale Vielfalt? Mehr öffentlicher Nahverkehr? Mehr fußgängerfreundliche Stadtstraßen und Stadtplätze? Was Spezialisten nicht zu beantworten vermögen, ist die Frage, wie die einzelnen Vorschläge städtebaulich abgewogen und optimiert werden können, so dass alle vier Dimensionen der Nachhaltigkeit – die wirtschaftliche, soziale, umweltgerechte und kulturelle Dimension – berücksichtigt werden. Und zwar nicht in möglichst offenen Verfahren, unter Einbeziehung nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch zivilgesellschaftlicher Akteure, etwa in einem Charrette-Verfahren. (www.charrette.de/page/index.html) Entscheidend ist dabei, dass es in Europa und den USA um den Umbau bereits bestehender Stadtregionen geht, kaum aber um Stadterweiterungen auf der grünen Wiese.

Der Klimawandel ist in der Städtebaudebatte allerdings noch gar nicht richtig angekommen. Die im Rahmen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) geführten Verhandlungen und Forschungen haben das Thema Städtebau kaum im Blick, obwohl doch die Städte zu dem Kreis der Hauptemittenten von Treibhausgasen und zugleich zu den Hauptbetroffenen der Folgen des Klimawandels gehören. Die Klimadebatte ist zurzeit noch überwiegend eine naturwissenschaftliche und eine politische. Immer deutlicher zeigt sich aber, dass die „europäische Stadt“ als politisches, soziales und städtebauliches Modell noch am ehesten geeignet erscheint, auch den klimatischen Herausforderungen der Zukunft zu genügen. Die „Zwischenstadt“ zumindest in ihrer überkommenen Form erweist sich demgegenüber als höchst risikohaft. (Sieverts, 2009:28-30) Die zentralen Konsequenzen für die Erweiterung des disziplinären Selbstverständnisses des Städtebaus, das sich mit dem Klimawandel verbindet, nämlich die Fragen der Anpassung (adaption), der Vorbeugung (mitigation), der Energiewende (peak oil) und der Widerstandsfähigkeit (resilience) sowie einer Umkehr der sozial-kulturellen Spaltung (im globalen wie im lokalen Kontext) könnten, ja sollten als ein Treibsatz für die programmatische Neujustierung der Disziplin Städtebau fungieren. (Newmann,2009:6)

Die Struktur der Ausstellung 1910|2010

Zusammenfassend gesagt, rückt die Ausstellung geradezu konträr die Themen Planung für das Stadtwachstum (1910) und Planung für eine an die Wachstumsgrenzen kommende Stadtregion in ihren Mittelpunkt. In der Ausstellung wird also ein Jahrhundertbogen geschlagen, ohne auf die Entwicklungen in der Zwischenzeit einzugehen. Diese werden gewissermaßen als Prozess ausgeblendet, um die Konturen der Veränderungen im Planungsdenken schärfer herauszuheben. Methodisch liegt der Ausstellung damit das Modell einer Matrix zugrunde, bei der die Betrachter sowohl die Themen des jeweiligen Zeithorizontes und der vier Repräsentanten als auch zwischen dem Jahrhundertsprung in Themen und konkreten Projekten vergleichen können. Damit werden die Konturen der inhaltlichen Schwerpunkte wie der angebotenen Projektlösungen deutlicher und regen zur Diskussion an. Das Ziel ist also kein vollständiger Überblick der Städtebaudebatte der letzten 100 Jahre, sondern ein Schärfen des Blickes auf die aktuellen Herausforderungen im „alten Europa und Amerika“, angesichts der grandiosen historischen Präsentation von 1910.

Nach einer einführenden Vorstellung der Modellstädte und einem jeweiligen Überblick der Herausforderungen, denen sich der Städtebau um 1910 und um 2010 gegenüber gestellt sah bzw. sieht, werden in jeweils sieben thematischen Abschnitten die Kernthemen der städtebaulichen Planung an den vier Großstädten behandelt.

Die Herausforderungen von 1910, waren sehr komplex. Es ging um
• die Entdeckung der Stadtregion,
• das chaotische, wenig kontrollierte Wachstum,
• die kommunale Zersplitterung,
• das Fehlen eines Generalplans,
• die Schönheit der Großstadtregion,
• die Bodenfrage (öffentliches Bodeneigentum),
• die Verkehrs- und Freiflächenfrage,
• die Wohnungsfrage.
Ziel war die Rationalisierung der rasch wachsenden, chaotischen und unsozialen Stadtregion der Industriegesellschaft.

Um 2010 haben sich die Herausforderungen grundlegend geändert. Es geht um
• die Revival der Großstadtregion,
• den Abschied von der Industriegesellschaft, Aufbau neuer wirtschaftlicher Grundlagen, internationaler Städtewettbewerb,
• die neuen sozialen Spaltungen,
• Wachstum/Schrumpfung, Alterung, Internationalisierung der Bevölkerung, Immigration,
• den Klimawandel, Ressourcen-Abhängigkeit,
• die Schönheit der Großstadtregion,
• die Zersiedelung und Abhängigkeit vom privaten Automobil.
Heute ist das Ziel die Rationalisierung der Stadtregion der postindustriellen Gesellschaft im Klimawandel.

Einen zentralen Stellenwert in der Ausstellung nehmen Pläne ein. Um 1910 entfaltete sich ein Kult des großen Plans, der vor allem mit den Entwürfen für Groß-Berlin, Chicago und Paris eine besonders eindrückliche Form gefunden hatte. Die Planbilder erlangten eine geradezu suggestive Kraft und entfalteten ihre Wirkung als Medium jenseits ihrer konkreten Umsetzbarkeit. Sie waren auch Ausdruck einer eigenen Bildsprache, die sich in der neuen Disziplin des Städtebaus etabliert hatte. Dabei standen die Monumentalplanungen für die Zentren, aber auch perspektivische Darstellungen für die Stadtregion und für städtebauliche Ensembles im Vordergrund. Heute scheint die Wucht der Plandarstellungen angesichts der Überfülle von Bildern in Architektur und Städtebau eher etwas gebremst zu sein. Dennoch beeindrucken z. B. die Planungen für Chicago und Paris die mediale Öffentlichkeit. Der städtebauliche Plan erhält wieder mehr Gewicht der öffentlichen Kommunikation.

Der Monumentalisierung des Stadtzentrums von 1910 wird die Diskussion um die Neue Stadtmitte als Schaufenster der Stadtregion von heute gegenüber gestellt. Der Umbau der Stadtzentren zu Repräsentationsräumen von nicht mehr nur staatlicher, sondern nunmehr auch kommunaler Macht, gewonnenem kommunalen Selbstbewusstsein und von neuer Bedeutung im internationalem Wettbewerb stand 1910 im Mittelpunkt – natürlich jeweils spezifisch ausgeprägt und anders akzentuiert. Ähnliche Motive können auch heute für den Umbau der Innenstädte gefunden werden. Dabei treten jedoch spektakuläre Architekturen, die sich zumeist an den globalen Touristen richten, aber auch die Inszenierung öffentlicher Räume als symbolische Orte urbaner Redefinition der Großstadt in den Vordergrund. Dass dieser Vorgang nicht nur nicht konfliktfrei verläuft bzw. verlaufen ist, sondern dass sich hier auch die sozialen und ökologischen Widersprüche dieses Umbaus manifestieren, gehört ebenfalls zum Gegenstand der Ausstellung.

Um 1910 gewann die Debatte um Urbane Alternativen zur hoch verdichteten, kompakten Innenstadt international an Bedeutung. Das galt als der Kern der Wohnungsfrage. Damals wurden bemerkenswerte Vorschläge unterbreitet, die durchaus heute noch brauchbare urbane Formen darstellen. Ziel war zwar die Abkehr vom schematischen Städtebau des 19. Jahrhunderts, nicht aber zugleich Aufhebung der kompakten Stadt. Heute stellt sich die Wohnungsfrage anders. Zum einen rückt der Umgang mit den überkommenen, hoch verdichteten Arbeiterquartieren als Brennpunkte des Wandels in sozialer und ethnischer Hinsicht in den Mittelpunkt städtebaulicher Revitalisierung. Eine besondere Rolle spielen dabei die zentralen Orte dieser Quartiere, die Stadtteilzentren, als Anker im sozialökonomischen Wandel. Zum anderen geht es um Quartiere des modernen sozialen Wohnungsbaus: deren Abriss oder Umbau. Die städtebauliche Nachbesserung der industriell gefertigten Wohnquartiere oder der grundlegende Umbau mit flächenhaftem Abriss kennzeichnen die hauptsächlich verfolgten Strategien dieser wohl größten Herausforderung des sozialen Stadtumbaus. Eindrucksvoll, aber auch widerspüchlich zeigt sich in Chicago das wohl weltweit größte Stadtumbauprogramm dieses städtebaulichen Typs.

London brachte in die Ausstellung 1910 die Neue Garten-Vorstädte in die internationale Städtebaudiskussion ein. Damit begann der Siegeszug eines suburbanen Lebensmodells, dessen räumliche Ausprägung bald dem Ordnungswillen der Wohnungsreformer entglitt. Heute stellt sich die Aufgabe der Eindämmung wie Qualifizierung der suburbanen Peripherie. Deutlicher kann der historische Wandel der Planungsaufgaben im zurückliegenden Jahrhundert nicht aufgezeigt werden.

Aus Boston und Chicago kam um 1910 eine wichtige Botschaft: Die neue, explodierende Großstadtregion bedarf weitflächiger Grünflächen, neuer Grünzüge, Grüngürtel und Volksparks. Heute ist das Themenfeld Großstadtgrün etwas verkümmert. Es erlebt heute eine gewisse Renaissance im Rahmen der zahllosen Großprojekte auf Stadtbrachen, auf nicht mehr genutzten Industrie-, Militär-, Bahn- und Flughafenflächen. In diesem Kontext spielen Zwischennutzungen eine nicht mehr zu übersehende Rolle.

Letztlich bekam die Stadt-Region als Planungsaufgabe 1910 erstmalig einen Stellenwert. Diese sollte nicht nur durch Grünflächen, sondern vor allem durch neue Verkehrsmittel strukturiert werden. Die neue Mobilität in der Stadtregion sollte vor allem durch Schnellbahnen gewährleistet werden.

Heute gewinnt die Stärkung der Stadtregion eine weit komplexere Dimension. Dabei geht es, wie die Modellstädte jeweils zeigen, um die Sicherung und den Ausbau des großflächigen Schienenverkehrs und des überregionalen Flugverkehrs, um neue Eingangstore in die Stadtregion, zu denen die Infrastrukturen wie Hauptbahnhöfe, Flughäfen zählen. Es geht aber auch um die Förderung des regional ausgerichteten Fahrradverkehrs oder die Stärkung stadtregionaler Identität(en). Von zentraler Bedeutung ist die Region schließlich bei der Anpassung an und bei den Strategien gegen den Klimawandel, bei der Umstellung der Energieversorgung auf das postfossile Zeitalter und bei der Sicherung bzw. Wiedergewinnung einer starken polyzentrischen stadtregionalen Raumstruktur.

Die Weiterentwicklung der Disziplin Städtebau und die internationale Kooperation

Chicago Millenniumspark

Chicago Millenniumspark

War die Ausstellung von 1910 Ausdruck einer Konsolidierung des neuen Fachgebietes, geht es heute eher um eine Neudefinition des Städtebaus als Disziplin. (Lampugnani, 2005) Heute beschäftigen sich zwar viele Verbände, Organisationen und Netzwerke national und international mit nachhaltigem Städtebau im weitesten Sinne. Ähnlich sieht es in der akademischen Aus- und Fortbildung aus. Es gibt nahezu flächendeckend eigenständige oder spezialisierte Lehrgebiete für Städtebau, Landschaftsplanung, Stadt- und Regionalplanung bzw. Raumplanung oder Urbanistik. Was auf den ersten Blick als Merkmal der Reife einer Disziplin erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung aber als Zeichen ihrer Fragmentierung. Es gibt zwar viele, aber meist isoliert agierende Institutionen. Dies betrifft die nationale, aber auch die europäische und ganz besonders die transatlantische Ebene. Existierten zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch transatlantisch angelegte Institutionsnetzwerke, so haben wir es in der Städtebau- bzw. Planungsdisziplin heute mit einer fragmented art zu tun. (Peterson, 2003: 329-336) Der Ruf nach einer Renaissance der Disziplin, die wirklich in der Lage ist, den Herausforderungen eines ganzheitlichen Planens und Raumgestaltens der Stadt-Region zu entsprechen, wird zunehmend lauter. Mit dem Congress for the New Urbanism ist in den USA z. B. eine solche Institution entstanden. (Farr, 2008:28-30) In Europa zeigen sich verschiedene Ansätze zum Aufbau neuer Allianzen (vgl. Council for European Urbanism, Academy of Urbanism, Eurosolar). Das Urban Land Institute stellt eine der wenigen übergreifenden (auch transatlantischen) Plattformen dar, wenngleich es noch vergleichsweise wenig in Europa wirksam wird.

Städtebau beruhte und beruht auf dem Austausch nationaler und internationaler Erfahrungen. Dieser Austausch hatte seine Blütezeiten um 1910, nach dem Zweiten Weltkrieg und in den 1970er Jahren. Heute stehen wir vor der Aufgabe, diesen Erfahrungsaustausch wiederzubeleben und inhaltlich neu auszurichten. Auch dazu will die Ausstellung Stadtvisionen 1910I2010 anregen.

Literatur

Bodenschatz, Harald (2003): Stadtumbau – Begriffe und Perspektiven, In: architektur_aktuell, Heft 6, S. 106-120
Bodenschatz, Harald (Hg.) (2009): Städtebau 1908/1968/2008. Impulse aus der TU (TH) Berlin, Berlin
Bodenschatz, Harald / Düwel, Jörn / Gutschow, Niels / Hans Stimmann, Hans (2009): Berlin und seine Bauten. Teil I: Städtebau, Berlin
Farr, Douglas (2008): Sustainable Urbanism – urban Design with Nature, New Jersey
Goecke, Theodor (1910): Allgemeine Städtebau-Ausstellung Berlin. In: Der Städtebau, Heft 7/8, S. 73-74
Goecke, Theodor (1911): Welche Erwartungen dürfen wir an das Ergebnis des Wettbewerbs „Groß-Berlin“ knüpfen? In: Der Städtebau, Hefte 1-3, S. 2-5, 16-20, 29-31
Hegemann, Werner (1911/1913): Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin, Bd. 1 und 2, Berlin
Hübler, Karl-Hermann / Kaether, Johann (Hg.) (1999): Nachhaltige Raum- und Regionalentwicklung – wo bleibt sie? Berlin
Kegler, Harald (1987): Die Herausbildung der wissenschaftlichen Disziplin Stadtplanung, Weimar
Lampugnani, Vittorio M. (2005): Neue Perspektiven für den Städtebau? In: www.isb.arch.ethz.ch/Lampugnani TA 30.08.05.pdf
Newman, Peter / Beatley, Timothy / Boyer, Heather (2009): Resilient City – Responding to Peak Oil and Climate Change, Washington DC
Peterson, Jon, A. (2003): The Birth of City Planning in the United States, Baltimore, London
Sieverts, Thomas (2009): Stadtbaugeschichte als Ressource? in: Council for European Urbanism (Hrsg.): 10 Jahre Zwischenstadt – wie weiter? Sundern/Berlin, S. 28-30

Abbildungen

1 Titel der Publikation zur Allgemeinen Städtebau-Ausstellung 1910 von Werner Hegemann herausgegeben und 1911 bzw. 1913 erschienen

2 Eugen Hernard: Planung für eine zweite große Pariser Straßenkreuzung, In: Hegemann, 1911, S. 236

3 Hermann Jansen: Bebauungsplan für die „Stadt der Wissenschaft“, Berlin Dahlem, In: Hegemann, 1913, S. 120

4 Farr, Douglas (2008): Sustainable Urbanism, New Jersey (Titel)

5 Berlin: Zwischennutzung des Spreeufers auf dem ehemaligen Grenzstreifen, dem zukünftigen Entwicklungsbereich am Ostbahnhof

6 London: Renaissance des Zentrums – Southbank East „More London“

7 Paris: Umbau einer Arbeitersiedlung am Stadtrand (Robinson) zu einer neuen Gartenstadt

8 Chicago: Blick auf den Millenniumspark, das Symbol für den stadtregionalen Umbau

(alle Fotos Harald Kegler)

Summary

CITY VISIONS 1910|2010
Berlin Paris London Chicago
100 years General Urban Design Exhibition in Berlin

In autumn 2010, just in time for the 100th anniversary of the “General Urban Design Exhibition Berlin 1910” the Berlin University of Technology (TU) will show the exhibition CITY VISIONS 1910|2010.

By means of the urban design exhibition in 1910 Berlin for the first time successfully compared itself with the great metropolises in Europe and the USA. The task then was to find answers to the challenges of an ever faster growing city of the industrial age. Today, 100 years later, Berlin presents itself again with an international view. Now as a model metropolis in the post-industrial society in the context of climate change.

In 1910 London was the Mecca of the garden city movement. Then the aim was to decentralise the city. In 2010 London represents itself completely different – as model of recentralisation, of the successful renaissance of the centre. The Paris of 1910 was mainly influenced by the great visions and plans of Eugène Hénard. “Grand Paris” today shows signs of a new national urban development policy, the background of which is an initiative of president Sarkozy. In Chicago the famous plan by Daniel Burnham to restructure the city that had been growing chaotically was introduced in 1909, initiated by the Commercial Club of Chicago. With the strategic plan Chicago Metropolis 2020 the Commercial Club again presents a plan for the sustainable development of the metropolitan area.

All four cities resemble a transatlantic perspective which was of high importance in 1910 and which is once again of growing importance today. The development of cities in Europe and in the U.S. is a global issue. Not only because of the resources that are used in these agglomerations, but also because of the visionary urban design concepts that have been and will continue to be developed here.

 

Ausstellungsankündigung Stadtvisionen 1910 2010

Preview Stadtvisionen Katalog

weitere Informationen zur Ausstellung - http://stadtvisionen.pro-urbe.net

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