Harald Kegler

Planen ohne Plan

Das kann man ja nun gerade nicht behaupten: es gäbe keine Pläne! Wir haben doch in unserem so weit gefächerten System der öffentlichen Planung in Deutschland geradezu ein Übermaß an Plänen. Und dennoch: wir haben keinen Plan. Es soll hier nicht, wie eine Vermutung nahe legen könnte, einer Planwirtschaft aus der Zeit stalinistischer Kommandowirtschaft das Wort geredet werden. Und dass eine Marktwirtschaft immer Konflikte mit staatlicher Regulierung und öffentlicher Planung hat, gehört zu den Binsenweisheiten. Darum soll es nicht gehen.

Das deutsche Planungssystem zählt zu den weltweit ausgefeiltesten; Deutschland ist das wohl am besten „überplante“ Land. Dabei hat Planung einen unbestritten wichtigen Beitrag für die soziale und wirtschaftliche sowie ökologische Stabilität des Landes geleistet. Bei aller Kritik z. B. am hohen Flächenverbrauch durch Besiedlung und Verkehr kann mit berechtigter Genugtuung festgestellt werden, dass es (noch) nicht zu gravierenden, planungsbedingten Katastrophen gekommen ist, abgesehen von kleinräumigen Fehlschlägen wie sie sich z. B. bei Elbe-Flut 2002 gezeigt haben. Verglichen mit den katastrophalen Versäumnissen in den USA wie sie beim jüngsten Hurrican-Desaster am Golf von Mexiko deutlich wurden, könnte die deutsche Raumordnung und Stadtplanung eigentlich zufrieden sein.

Das Problem liegt woanders: Die Planung in Deutschland scheint, so die These, an ihr „Ende“ gekommen zu sein. Sie hat als reaktive Planung auf den Industrialisierungsprozess wichtige Ausgleichs- und Vorsorgefunktionen übernommen und dabei beträchtliche Erfolge erzielt. Sie hat nun, da weite Teile des Landes eine „postindustrielle Landschaft“ geworden sind, die langfristige Steuerungsfunktion eingebüßt. Es fehlt der „große Plan“ für die neue Ära.

Am folgenden Beispiel der Sanierung der Braunkohlebauregionen in Ostdeutschland, einem der größten öffentlichen Planungs- und Bauvorhaben, das es in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gab und das seinesgleichen in der deutschen Geschichte sucht, soll dies umrissen werden. Allein die Zahlen bestimmten die Auswahl des Beispiels: Für die Sanierung der stillgelegten Braunkohle- und Uranbergbaugebiete wurden in etwas mehr als einem Jahrzehnt jeweils ca. 9 bis 10 Mrd. €, also knapp 20 Mrd. € „in den Sand“ gesetzt worden. Es hat der gewaltigste Landschaftsumbau – in so kurzer Zeit – stattgefunden, den es in Europa je gegeben hat. Ein ähnlicher Prozess findet im thüringisch-erzgebirgischen Uranbergbaugebiet statt:

Die Hintergründe der Braunkohlesanierung

In Mitteleuropa entstand zwischen 1995 und 2005 (letzte Arbeiten laufen noch bis 2010) eine weltweit einmalige neue Kulturlandschaft – die Landschaft nach der Braunkohle. In diesem Jahrzehnt wurde zwischen Harz und Zittau, zwischen der Oder und Saale in den ehemaligen Braunkohlerevieren um Bitterfeld und Merseburg, im Südraum Leipzig und in der Lausitz ein Gebiet neugestaltet, das einer Ausdehnung von 280 mal 80 km entspricht. Es ist durch den Menschen in einem atemberaubenden Tempo die Bergbauwüstungen in eine attraktive Seenlandschaft verwandelt worden. Damit vergrößert sich die Wasserfläche der Bundesrepublik um ein Drittel – ein seit der Eiszeit nicht mehr da gewesener Vorgang, nur diesmal allein durch Menschenhand als Sanierung stillgelegter Tagebaue. Die Umgestaltung einer Landschaft in diesen Dimensionen und der Zeit hat es nicht gegeben – man könnte von der Schaffung einer neuen, „Welt-Kulturlandschaft“ sprechen. Die ehemals 224 sog. Restlöcher des Braunkohletagebaus, also Gruben aus über 100 Jahren Bergbau, sind nunmehr in 800 Projekten der Braunkohlesanierung zusammengefasst worden. Sie bilden – nach Abschluss der Sanierung - zusammen die neue Kultur-Landschaft. Die Tagebaue sind nicht nur sicher und nachnutzbar gemacht worden, sie wurden auch gestaltet. Der Bund und die Länder Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie Thüringen haben bisher mit etwa 7,5 Mrd. € (bis 2010 etwa 10 Mrd. €) dieses einmalige Programm finanziert und mit zahlreichen Sanierungs-Unternehmen, Gestaltern, den Kommunen und Landkreisen sowie einer Vielzahl lokaler Initiativen dieses Vorhaben umgesetzt. Gelenkt wurde dieser Prozess durch den Steuerungs- und Budget-Ausschuss, eine dem Finanzministerium nachgeordnete Instanz zur Bereitstellung und Kontrolle der Sanierungsgelder. Durch die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV) hat den gigantischen Umbau organisiert und vollzogen. (www.lmbv.de)

Der Braunkohlebergbau hat über 150 Jahre die Landschaft, die Städte, die Menschen geprägt. Er viele überhaupt erst in diese Regionen gebracht. Nun ist dieses Zeitalter zu Ende. Die Folgen sind auch schmerzhaft – Arbeitslosigkeit war die Folge, Wohnungsleerstand und große Brachen entstanden. Die getätigten Investitionen der öffentlichen Hand in die Sanierung der Bergbaufolgelandschaften haben sich auf den ersten Blick gelohnt. Sie haben sich vor allem gelohnt für die Wiederherstellung des Wasserhaushaltes, der die Basis für die Wiedergewinnung einer ökologischen Balance und langfristiger Nutzung ist.

Die „10 Eimer“ und der Bodensee: nach dem großen Abbau folgt das große Wasser

Zum Vergleich: Um zu einem Eimer Braunkohle zu gelangen mussten etwa 5 Eimer Wasser abgepumpt und in die Flüsse abgeleitet werden sowie 4 Eimer Erdreich abgetragen und verkippt werden, d. h. ein Verhältnis von 1:5:4. Von dem einen Eimer Kohle wiederum blieb jedoch effektiv nur ein Viertel, das als Strom beim Verbraucher ankam, der Rest “verschwand“ durch Verluste bei den Dampfmaschinen, bei der Stromübertragung und nicht zuletzt durch den Eigenverbrauch der Tagbaugroßgeräte.

Aus Braunkohletagebauen können aber nicht einfach nur durch „Reinlassen“ des Wassers wie in einer Badewanne Seen werden. Die Probleme sind die steilen Böschungen und die Versauerung des aufsteigenden Wassers. Beides sind eine große Gefahren. Rutschungen, die lawinenartig auf mehreren hundert Metern Länge abgehen können, besitzen eine enorme Zerstörungskraft. Sie würden eine Nachnutzung dieser riesigen Areale verbieten. Und sauere Gewässer verbieten jedwede touristische oder wasserwirtschaftliche Nutzung. Deshalb waren die großen Anstrengungen notwendig, um die Landschaft auch nach der Stilllegung des Bergbaus wieder für den Menschen oder für die Natur gewinnbar zu machen. Es mussten alle Böschungen auf ein Verhältnis von etwa 1:10 bis 1:25 Neigung abgeflacht werden, damit eine Rutschungsgefahr gebannt wird. Das geflutete Wasser stabilisiert die Böschungen. Die dabei sanierten Grubenkanten entsprechen einer Strecke von Paris bis Berlin, also weit über 1000 km. Umgerechnet bedeutet dies: 1m³ Böschungssanierung kostet durchschnittlich etwa 0,5 €. Für die Sanierung des Berzdorfer Tagebaus bei Görlitz heißt das: Hier wurden 77 Mio. m³ Erdreich bewegt – ein Berg von etwa 4x4x4 km. Dies kostet 125 Mio. €, verteilt auf 8 Jahre. (Kegler, 2005, LMBV)

Insgesamt sind über 500 km² neue Kulturlandschaft entstanden, mit ausgedehnten Seen und neuen Uferbereichen. Dies entspricht der Fläche des größten Binnensees Mitteleuropas, dem Bodensee, und dem 100fachen des größten europäischen Landschaftsgartens, dem Muskauer Park von Pückler an der deutsch-polnischen Grenze aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Beeindruckende Werte, wenn man hinzurechnet, dass dies alles zwischen 1993 und 2010 entstanden sein wird. Doch der erste Blick genügt nicht.

Für diesen Umbau ganzer Regionen wurde eine große Planungsmaschinerie geschaffen, die unter Maßgabe des Schaffens von bergrechtlicher Sicherheit, möglicher Vermarktung der „rekultivierten“ Landschaften und der Wiederherstellung eines ausgeglichenen Wasserhaushaltes ein wahres „Planungsgebirge“ erstellte. Im Kern geht es bei der Braunkohlesanierung um die Planung der Böschungssanierung (Stabilisierung), um Vorbereitung für touristische Nachnutzung bzw. die Ansiedlung von Unternehmen und die Planung des Flutungsprozesses der Gruben. Der größte Teil des Geldes geht in die Böschungssanierung, wird also „in den Sand“ gesetzt. Dies ist eine Voraussetzung für die Nachnutzbarkeit. Es wäre natürlich auch denkbar, die Zugänglichkeit der Grubenareale zu verhindern und dann diese sich selbst zu überlassen, also eine gezielte Sukzession herbeizuführen, wie das bis in die 1950er Jahre meist geschah und wie es weltweit immer noch zum großen Teil geschieht – einfach aus Kostengründen. Doch zwei Gründe sprachen dagegen: Zum einen gab frühzeitig die politische Übereinkunft, dass die Sanierung der Braunkohle- und Uranbergbaugebiete in Ostdeutschland eine enorme Symbolwirkung besitzt, nach der die Hinterlassenschaften der DDR durch die Bundesrepublik bewältigt werden können und auch damit Grundlagen für die Zukunft in Ostdeutschland gelegt werden. Zum anderen ist dieser Kraftakt auch sachlich begründet. Das schlagartige Brachfallen so großer Gebiete hätte die Gebietskörperschaften überfordert; ohne staatliche Unterstützung wäre kaum die Absperrung der Areale, geschweige denn die Sanierung möglich gewesen. Es bedeutete eine enorme politische Anstrengung, diese Beträge aus der öffentlichen Kasse, d. h. aus Steuermitteln, bereitzustellen.

Doch genau hier entstehen die Fragen nach verpassten Gelegenheiten: Inhaltlich handelt es sich im Grunde um eine Standardaufgabe, doch die zeitliche und räumliche Dimension sowie die länderübergreifende Aufgabe übertraf alles, was es bisher an vergleichbaren Sachverhalten gab. Das hebt sie als besondere Planung heraus. Die Planungs- und Umsetzungsmaschinerie mit dem Sanierungsbeirat, dem Bund-Ländergremium, welches die finanzielle und politische Lenkung des gesamten Prozesses vornahm, mit dem Steuerungs- und Budget-Ausschuss als Steuerungsgremium, mit der LMBV als Sanierungsumsetzer und die jeweilige regionale Planung als staatlicher bzw. kommunaler Seite der Raumordnung und Bauleitplanung ist ein System entstanden, das zwar die Gewähr bot, die gewaltige Bauaufgabe zu realisieren, doch eine „kreative Sanierung“, eine strategisch ausgerichtete, ganzheitliche Umgestaltung der Industriefolgelandschaft zu einem ökologisch, sozial, wirtschaftlich uns kulturell anspruchsvollen „Gesamtkunstwerk des 21. Jahrhunderts“ – analog zu den vorindustriellen Landschaftswerken des Dessau-Wörlitzer Gartenreiches oder der Muskauer Anlagen von Fürst Pückler gelang nicht oder nur ansatzweise. es wurde weitgehend insular geplant und saniert. Das klingt ernüchternd.

Die bergrechtliche Vorgabe der „Sicherheit nach dem Ende des Bergbaus“ dominierte diesen Planungsprozess. Das ist nichts Neues. Dem wurde dann die touristische Nachnutzung beigefügt – auch das überrascht nicht. Und letztlich folgte die Vermarktung der Areale als Möglichkeit, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die staatlichen Haushalte mit Verkaufserlösen wieder etwas aufzufüllen. Auch das sind keine ganzheitlichen Ansätze, eher pragmatische Vollzugshandlungen. Minutiös wurden (werden) alle Details geplant, werden Flutungsszenarien durchgespielt, Böschungsabflachungen, Begrünungen und Wanderwege geplant. Flankiert werden diese bergbaulichen Sanierungsplanungen von raumordnerischen Planungen sowie von verschiedenen Fachplanungen zur touristischen Nachnutzung, zur Landschaftsgestaltung oder Verkehrsführung. So entsteht letztlich überall das Gleiche: eine riesige Seenfläche für Tourismus und, partiell für Naturschutz. Man kann eigentlich nichts beanstanden, denn im traditionellen Verständnis ist planerisch alles weitgehend richtig gemacht worden. (Vgl. Landesentwicklungsplan Sachsen, S. 72; Braunkohleplanung Westsachsen, S. 26 ff)

Obwohl es sich um eine rein staatliche Angelegenheit handelte, der Staat als Souverän tätig geworden ist und Geld zur Verfügung stand, wurden übergreifende, ganzheitliche und zugleich anspruchsvolle Resultate nur partiell bzw. nur durch „Unterwanderung“ der Planungsstrukturen, gewissermaßen „außerplanmäßig“ erzielt. Dies ist z. B. im Falle Ferropolis und der Landschaftskunst Goitzsche bei Bitterfeld, oder bei der Internationalen Bauausstellung in der Brandenburgischen Lausitz geschehen. Diese wurden natürlich nur möglich, weil es die Strukturen der Sanierung und die entsprechenden Finanzierungen gab (gibt), jedoch waren sie nicht in dem Planungssystem selbst angelegt, sondern entstanden durch das Engagement Einzelner und durch außerhalb der Bergbausanierung existierender Institutionen, wie dem Bauhaus Dessau oder Landesinstitutionen wie der EXPO 2000 GmbH in Sachsen-Anhalt oder IBA GmbH in Brandenburg. Diese wirkten in die etablierten Planungsstrukturen hinein und konnten partiell das Planungssystem „erweitern“. Die dadurch erzielten Ergebnisse sind heute Aushängeschilder einer erfolgreichen Braunkohlesanierung. Vor allem dadurch wurden die zweifelsohne sinnvollen Resultate, wie die Sanierung der Wasserhaushalte nach dem Ende des Bergbaus, für die Öffentlichkeit erkennbar.



Beispiel Goitzsche bei Bitterfeld: Menetekel des Planungsverständnisses

Bild vergößern.Mit 60 km² Fläche ist dieser ehemalige Tagebau bei Bitterfeld einer der größten im mitteldeutschen Revier um Leipzig. Dieser Tagebau ging 1993 vom aktiven Braunkohleabbau in den Sanierungsbergbau über, ein üblicher Vorgang, wenngleich dieser Übergang vorzeitig erfolgte. Mit der Wende in der DDR und dem anschließenden Deindustrialisierungsprozess sowie dem Anschluss an das westdeutsche bzw. europäische Elektroenergienetz entfiel der Bedarf an Braunkohle weitgehend. So wurden nahezu alle Tagebaue innerhalb weniger Jahre geschlossen. Danach begann die Böschungssanierung und Vorbereitung für die Flutung. Die Goitzsche wurde als besonderer Tagebau für die EXPO 2000 ausgewählt. Hier sollte die größte Landschaftskunst Europas entstehen – was auch im Wesentlichen erfolgt ist. darüber hinaus weist die Goitzsche eine Besonderheit auf: Teile des Altbergbaus, also der Bereiche, die bereits vor mehreren Jahrzehnten ausgekohlt waren und weitgehend sich selbst waren, wurden vom BUND gekauft und als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Hier soll die Wiederinbesitznahme menschengemachter Areale durch die Natur verfolgt werden. Auch wenn die Unterschutzstellung von nicht für touristische Zwecke nutzbaren Bergbaubereichen nichts Außergewöhnliches darstellt, so ist doch die Initiative des BUND im Sinne eines „Gesamtplanes“ für die langfristige ökologische und biologische Regenerierung der durch den Bergbau „ausgeräumten“ Areale von nicht zu unterschätzender Bedeutung.


Die Sanierungsmittel wurden „überplanmäßig“ für eine anspruchsvolle Gestaltung der Uferbereiche eingesetzt – alles blieb jedoch strikt im Rahmen der genehmigten Finanzen. Eine Wasserfront mit einem Aussichtsturm, einer Marina und Landschaftskunstwerken wurden geplant – die Landschaftskunstwerke sowie der Pegelturm, noch auf dem Trockenen stehend, entstanden, bevor der Tagebau künstlich geflutet wurde. Damit wurde dieser Bereich durch Konzentration von Sanierungsmitteln für eine höherwertige touristische Nutzung ausgewählt. Bis zur EXPO waren erste Zeichen zukünftiger Nutzung am Ufer geschaffen worden, die Planung für die endgültige Sanierung und Flutung war aber noch nicht abgeschlossen; das Planfeststellungsverfahren lief noch.

Alles verlief planmäßig, bis zum August 2002.Das Hochwasser der Mulde durchkreuzte die technischen Planungen. Im Zuge des Braunkohleabbaus war der Fluss in den 1970er Jahren verlegt worden. Ein großes Deichbauwerk riegelte den Fluss vom Tagebau Goitzsche ab. Im Verlauf der Flut suchte sich nun die Mulde ihr altes Bett wieder und durchbrach den Deich. Keiner der Sanierungsplaner hatte damit gerechnet, dass an dieser als absolut sicher eingestuften Stelle der Deich brechen würde. Innerhalb von zwei Tagen war der Tagebau geflutet, was sonst 5Jahre gedauert hätte. Der Planungsprozess war noch nicht abgeschlossen, doch der Tagebau war geflutet. Alle technische Akribie hatte den Blick für das Ganze verstellt; der technische Ablaufplan hatte die Sicht auf die ökologischen Gesamtzusammenhänge in den Hintergrund gedrängt. Jetzt waren Tatsachen geschaffen worden. Die Umsetzungsmaßnahmen für die touristische Nutzung konnten beschleunigt werden. Doch das Planfeststellungsverfahren, was nunmehr eigentlich obsolet geworden ist, wurde trotzdem durchgeführt – ein immenser planerischer Aufwand, der an einen Schildbürgerstreich erinnert. Doch ist dieses aus Verfahrensgründen notwendig, damit nicht später etwaige rechtliche Ansprüche von Betroffenen geltend gemacht werden können, wegen Verfahrensfehlern ... In dieser Hinsicht wird Vorsorge getroffen. Rechtliche Rückversicherung ist ein oberstes Prinzip der Planung. Langfristige ökologische Vorbeugung bleibt im Rahmen der gesetzlichen Notwendigkeiten und des technischen Ablaufplanes gefangen. Der Deich ist an gleicher Stelle und nach der gültigen DIN-Norm wieder erstellt worden.

Bereits 1995 gab es hingegen den Vorschlag und eine Entwurfsplanung vom Bauhaus Dessau (die Arbeiten am Bauhaus Dessau „Die Mulde – Visionen für ein Flusseinzugsgebiet“ wurden von Helen Mayer-Harrison und Newton Harrison, Ulrike Schacht, Leo Sztatecsny, Rainer Weisbach und Eric Lord, unterstützt vom Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung Sachsen-Anhalt, vorgenommen), im Zuge der Sanierung der Grubenböschungen, einen Teil des Flusses wieder in den Bereich des ehemaligen Bettes zurückzuverlegen, um eine Durchgängigkeit des Gewässerlaufes wieder zu ermöglichen. (Stiftung Bauhaus Dessau, 1995) Dies wurde nicht realisiert, da dies erhebliche Zusatzaufwendungen bei der Sanierung bedeutet hätte und wohl weniger attraktiv für die Touristen gewesen wäre. Anstelle dessen wurde ein symbolisches Kunstwerk errichtet, das den Verlauf des Flusses markierte. Im Zuge der Flut suchte sich die Mulde ihr altes Flussbett wieder. Der Schaden war enorm. Ob das entworfene sog. Umgehungsgerinne ausgereicht hätte, kann nur gemutmaßt werden. Der Ansatz aber zielte in die richtige Richtung, denn der Entwurf für das Umgehungsgerinne entsprang der Betrachtung des gesamten Einzugsgebietes der Mulde, also vom Erzgebirge bis zur Mündung in die Elbe bei Dessau. Hier lag ein Ansatz für eine ganzheitliche, grenz- und ressortüberschreitende Betrachtung des ökologischen und funktionalen Systems vor. Obgleich es beim Regierungspräsidium Dessau zu dieser Zeit eine länderübergreifende Arbeitsgruppe gab, die sich mit den ökologischen Problemen des durch die Chemieindustrie der DDR verursachten Umweltbelastungen der Mulde beschäftigte, blieben deren Arbeiten im rahmen der Zuständigkeiten gefangen. Hier wurden vornehmlich pragmatische Abstimmungen getroffen, die aber nicht im Sinne eines übergreifenden Planes für die langfristige Wiederherstellung des Gewässersystems im Einzugsbereich der Mulde anzusehen sind.

Zweifelsohne waren ein solches Hochwasser und die daraus resultierenden Zerstörungen nicht vorhersagbar. Doch muss eingewandt werden, dass derartige Ereignisse zukünftig keine Ausnahmen bleiben werden. Bekanntermaßen schlagen die Klimaveränderungen, die zu einem Teil auch auf die Braunkohleverstromung der vergangenen Jahrzehnte zurückzuführen sind, nunmehr auf die Verursacher zurück. In welcher Weise kann nur vage vorher gesagt werden. dass aber die bisherige insulare Planung den zukünftigen Herausforderungen nicht gerecht werden kann, dass eine übergreifende Strategie, die solch grundsätzlichen Fragen Rechnung trägt, d. h. risikominimierend und präventiv angelegt wird, zwingend erforderlich ist, demonstriert dieses Beispiel hinreichend.

Eine Planung für das gesamte Einzugsgebiet des Flusses sowie für besonders risikobehaftete Abschnitte zeigt die Richtung notwendigen Denkens an. damit ist aber noch nicht der Komplexität des gesamten Wassersystems und der Veränderungen in nächster Zukunft Genüge getan. Obwohl mit der Flutung der ehemaligen Tagebaue ein enormer Zuwachs an Gewässerfläche entsteht, werden weite Teile Ostdeutschlands zukünftig eher Trockengebiete sein, eine Art Savannenbildung setzt ein. bereits heute klagen viele Landwirte über Wassermangel. Auf diese gravierenden Änderungen sind die planenden Institutionen nur unzureichend eingestellt, das Planungsinstrumentarium der Raumordnung ist darauf nur bedingt ausgelegt, mehr noch, die Struktur der Raumordnung verhindert geradezu ein Denken und Handeln in großen Zusammenhängen, länderübergreifend und an langfristigen, existenziellen Fragen orientiert.


Beispiel Ferropolis: Vision vor Plänen

Ferropolis, die „Stadt aus Eisen“ im Industriellen Gartenreich, begeht in diesem Jahr ihr 10 jähriges Gründungsjubiläum. Die „Baggerstadt“ ist fertig. Fünf Giganten des Braunkohletagebaus wurden vor der Verschrottung bewahrt und auf den Bereich der ehemaligen Tagesanlagen der Grube gefahren, wo sie als „Stadtkrone“ eine imposante Kulisse für Konzerte, für Kunstaktionen, für Begehungen und Feste, für kreative und profane Aktionen dienen. Der erste Bagger begann seine Fahrt im September 1995; zur EXPO 2000 wurde Ferropolis mit einem Konzert von Mikis Theodorakis - noch als Baustelle - eröffnet. Seitdem wurde die Infrastruktur der „Stadt“ gebaut, die Areana vollendet, ein Ausstellungsgebäude eingerichtet, Veranstaltungsräume ausgebaut, ein Tagebaugroßgerät (Absetzer) für Besucher zugänglich gemacht und eine anspruchsvolle Freiraumgestaltung angelegt. Seit nunmehr 8 Jahren ist der Bebauungsplan in Arbeit und Ferropolis ist fertig.

Der B-Plan wird nun vollendet. So war es möglich, mit Ausnahmegenehmigungen des Ordnungsamtes und vorläufigen Gestattungen des zuständigen Bauamtes bzw. der Aufsichtsbehörden den Bau der „Stadt“ voranzutreiben, zwischenzeitliche kulturelle Nutzungen vorzunehmen, ungewöhnliche Planungsverfahren (Charrettes) durchzuführen, Grubenwanderungen und Kunstprojekte zu veranstalten, also Visionen für die Bergbaufolgelandschaft insgesamt zu entwickeln, ohne dass ein festgefügter Plan den Weg verstellte oder einmal gefundene Lösungen zementierte.

Die Vision der „Stadt aus Eisen“ hat die Planungen bestimmt. Die bergbaulichen Sanierungspläne, das Regionale Entwicklungskonzept, eine Machbarkeitsstudie, ein Masterplan und technische Ausführungspläne für den Bau von Ferropolis folgten dieser – die „normale“ Bauleitplanung blieb auf der Ebene der Vorläufigkeit und wird quasi nach dem Bau die Rechtssicherheit für die weitere Entwicklung ermöglichen. Der Zustand der „Zwischenplanung“ erlaubte den Fortgang des Baus und der frühzeitigen „Zwischennutzung“, wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg des Projektes. Wäre ein B-Plan frühzeitig beschlossen worden, hätte er mehrfach geändert werden müssen, wären große Verzögerungen unausweichlich gewesen, ja hätte eventuell das gesamte Vorhaben an „Überplanung“ im Verfahren sterben können.

Am Beginn dieses Projektes stand der „große Plan“ eines Industriellen Gartenreichs, einer Landschaft nach dem Bergbau, die die ganzheitliche Vision des historischen Dessau-Wörlitzer Gartenreiches aus dem 18. Jahrhundert für das 21. Jahrhundert in neuer Weise zu interpretieren suchte. Ferropolis war das Herzstück dieser Vision, ein lebendiger Ort, der Geschichte respektiert ohne sie widerspruchsbefreit zu musealisieren, der offen ist für neue Entwicklungen, der Denkmalschutz nicht als Dogma betrachtet und dennoch beachtet, der vor allem der Region eine neue Identität verliehen hat und ihr Perspektiven eröffnet, die ausgestaltet werden können. Die vorhandenen Mittel der Braunkohlesanierung, aber auch andere, so der Strukturfond der EU und Landesmittel, boten die Voraussetzung für diese Gestaltung – hier wurde sie ganzheitlich genutzt. Dieser „Plan“ war parallel zur Sanierungsplanung entstanden und vermochte sie dank des Engagements der Handelnden Vorort zu orientieren. Damit war Ferropolis eine Ausnahme, aber auch ein Vorreiter für vergleichbare Aktivitäten in der Brandenburgischen Lausitz, die ab 2000 dort eingeleitet wurden.

Ab 2004 nun hat die LMBV eine neue Entwicklungsphase nach dem Abschluss der technischen Sanierung der Bergbaufolgelandschaft eingeleitet: der Verkauf der sanierten Areale nach dem Prinzip der Meistbietenden. Der Ferropolis umgebende See, der ehemalige Tagebau Golpa-Nord, bald der Gemminer See, wurde als einer der ersten Tagebauseen in Ostdeutschland 2005 privatisiert. Die Tochter des Pharmakonzerns „ratiopharm“, die Blauwald GmbH, erwarb das 6 km² umfassende Wasser-Areal um Ferropolis herum. (MZ, 27. 01. 2005) Der zukünftige See, nebst Uferzonen, wurde von der LMBV verkauft. Es ist kaum anzunehmen, dass dies ein Einzelfall bleibt. Auch hierfür gibt es keinen übergreifenden Plan. Die Privatisierung solch riesiger Flächen, die durch staatliche Gelder aufbereitet wurden und die der öffentlichen Nutzung dienen, ist ein Präzedenzfall. Niemand würde ernsthaft die Privatisierung des Bodensees betreiben - mit den Bergbauarealen soll dies offensichtlich geschehen.

Die Sicht auf das Ganze

Die Braunkohlesanierung, wie der offizielle Fachbegriff für dieses „Jahrhundertwerk“ lautet, war in Dimension und Zeitrahmen eine historisch neue Aufgabe. Somit war niemand darauf vorbereitet – weder die Bergbausanierer noch die planerische Fachwelt, abgesehen von Ausnahmen wie dem Bauhaus Dessau, Initiativen in der Lausitz oder in Sachsen, die dann zu jenen „Ausnahmeprodukten“ der Landschaftsentwicklung führten, welche heute Aushängeschilder sind. Diese Initiativen waren die Ausnahmeinstitutionen, die nicht Teil des Planungssystems waren. Vielleicht konnten sie nur deshalb das Besondere erreichen. Sie sind eine Art „Planlosigkeit“ im festgefügten System der vielen Pläne. Die Braunkohlesanierung folgte dem Grundmuster, das der räumlichen Planung im Wesentlichen generell zu Grunde liegt:
- Probleme werden primär als technische gesehen und mit technischen Mitteln zu lösen sein;
- Planung ist separiert nach Zuständigkeiten und folgt nur in diesem Rahmen den Notwenigkeiten;
- die Lösung der Gesamtaufgabe wird behandelt wie die der einzelnen Aufgabe, d. h., die Umgestaltung der Tagebaufolgelandschaft erfolgt wie die Sanierung des einzelnen Tagebaus – beim Wasserregime wird der Konflikt bereits deutlich;
- dem gleichen Muster folgen die Gestaltungsinitiativen in den jeweiligen Regionen bzw. an den einzelnen Tagebaurestlöchern – jeder „stirbt für sich allein“;
- grundsätzlich versteht sich der Staat als Vorbereiter privater Weiternutzung der Bergbauareale, d. h., er saniert die Gebiete und verkauft sie dann, damit diese durch private Akteure wirtschaftlich nachgenutzt werden und Arbeitsplätze entstehen, was ganz dem neoliberalen Geiste entspricht, doch angesichts der Dimensionen, der objektiven Zusammenhänge des Ganzen und des Mangels an lokaler Wirtschaftskraft zu kurz gedacht ist;
- die wirkliche Erfolgsgeschichte der Sanierung der Tagebaulandschaft (im technischen Sinne) wird durch Separierung der Bereiche bei der Umgestaltung, vor allem aber bei der Überführung in die Nachnutzung quasi aufgehoben: der Verkauf der einzelnen Tagebaue führt zu einer Zerstückelung der zusammenhängenden Gebiete in räumlich-gestalterischer und funktionaler Hinsicht; die Chance, der ganzheitlichen Entwicklung wird durch Parzellierung des gesamten Gebietes vergeben – dies ist kein Plädoyer für eine Fortsetzung staatlicher Trägerschaft, sondern für eine angemessene Form im Sinne einer Landschaftsstiftung, eines öffentlichen Fonds unter Integration von Privaten Akteuren im Sinne wirklicher Partnerschaft.

Fazit: Nur soviel Plan wie notwendig, aber soviel ganzheitliche Vision wie möglich

Es gibt keinen ökologischen und funktionalen Masterplan für die Braunkohlegebiete in Ostdeutschland insgesamt. Es gibt für jeden Tagebau einen entsprechenden Abschlussbetriebsplan und Teilgebietsentwicklungspläne der staatlichen Raumordnung, die in der Zuständigkeit der jeweiligen Länder bzw. der Planungsgemeinschaften sind. Letztendlich reduziert sich die gesamte Planung auf das bergrechtlich Notwendige, auf Ordnen und Sichern sowie auf den Zweck, einer Verkäuflichkeit des Geschaffenen. Das kann als eine Art unvollendeter Planung angesehen werden. Vor lauter Plänen geht der Blick auf das Ganze verloren. Wer aber soll bzw. kann nun eine solche Gesamtsicht in den Prozess einbringen? Institutionen wie das Bauhaus wären dazu berufen, als relativ unabhängige Instanzen die Rolle des „strategischen Querdenkers“ zu übernehmen. dabei besteht jedoch zugleich die Gefahr, in die Rolle des „Narren“ abgedrängt zu werden. Aber vielleicht liegt ja gerade darin eine Chance.

 

 

Literatur
www.lmbv.de
Kegler, H.: Ferropolis – Die Stadt aus Eisen, Festschrift zum 10. Gründungsjubiläum, Berlin/Gräfenhainichen, 2005
Bauhaus Dessau, MBV, Landkreis Bitterfeld (Hg.): Bergbaufolgelandschaft Bitterfeld – Natur aus zweiter Hand, 1995
Mitteldeutsche Zeitung (MZ), 27. 01. 2005: Kein Platz für Luftschlösser
Freistaat Sachsen, Staatsministerium des Innern: Landesentwicklungsplan Sachsen, Dresden, 2003
Regionaler Planungsverband Westsachsen: Braunkohleplanung in Westsachsen, Leipzig, 1998

 

Abbildungen

A) Planung für das Umgehungsgerinne der Mulde bei Bitterfeld – Teil der Vision für das Einzugsgebiet der Mulde, Bauhaus Dessau, 1994/95 (Entwurf: Sztatecsny, Schacht), Abb. in: Bauhaus Dessau, MBV, Landkreis Bitterfeld (Hg.): Bergbaufolgelandschaft Bitterfeld, 1995, S. 20
B) Ferropolis – ein lebendiger, kreativer Ort in der ehemaligen Bergbau-Wüste, anlässlich der baulichen Vollendung im Juli 2005, Abb. Kegler

 

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Mitteldeutschen Zeitung vom 02. Oktober 2001/ von Claus-Bernd Fiebig