NRW Urbanism
Die Charrette als Basis verlässlicher Entwicklung

Harald Kegler


Vorrede: Resistenz heißt Integration

Eigentlich sind sie natürliche Verbündete, die europäische reflexive Moderne und das Spektrum des US-amerikanischen Reformstädtebaus, das von Smart Growth über New Urbanism bis zu Liveable Communities reicht, wenn es da nicht tiefe Unkenntnis, Voreingenommenheit und ideologische Ressentiments oder auch schlechte Einzelerfahrungen geben würde. Warum also, so stellt sich die Frage, widmen wir uns überhaupt der Integration von Elementen US-amerikanischer Erfahrungen in die deutsche Planungskultur? Ein flüchtiger Blick über den Atlantik zeigt, dass vieles von dem, was in Europa und besonders in Deutschland planerisch und baulich praktiziert wird, den Verhältnissen in den USA weit voraus ist, gemessen an dem, was hierzulande unter Nachhaltigkeit im weitesten Sinne oder unter Baukultur verstanden wird. Ob dies den öffentlichen Verkehr oder das ausgeprägte Baurecht betrifft, die USA sind diesbezüglich wohl eher ein Entwicklungsland der städtebaulichen Kultur, das mit „Hilfe zur Selbsthilfe“ zu bedenken wäre und nicht Gegenstand der Erörterung hinsichtlich der Übernahme bzw. Integration von planungskulturellen Elementen sein könnte. Wir haben doch alles, so die gängige Meinung. Und wenn wir etwas nicht haben, dann sollten wir tunlichst uns auch davor hüten, diese Dinge aus den USA zu übernehmen. Dazu gehören wohl vor allem die ästhetischen Seiten einer als rückwärts orientiert angesehenen Baukultur, wenn davon überhaupt gesprochen werden kann, angesichts der – gelinde gesagt – kitschigen Bauresultate.
Doch, es schwingt Skepsis mit, wenn wir einen ungetrübten Blick auf die Entwicklungen in Europa und Deutschland wagen. Sind wir nicht längst dabei, einem kruden Amerikanismus Platz zu geben und die Errungenschaften der letzten Dekaden in der Planungskultur unterschwellig aufzugeben? Mit dem „Centro“ in Oberhausen ist ein solches Symbol des kruden Amerikanismus entstanden, ökonomisch erfolgreich, ästhetisch und stadtfunktional fragwürdig – die Kritik ist längst verstummt. Sie konzentriert sich auf die „Softvariante“ des Amerikanismus, die leicht abzuqualifizierende Disney-Städtebau-Kultur, weil sie uns direkt kaum zu betreffen scheint, und weil sie leicht kritisierbar ist. Doch auch hier gilt: Diese Kultur ist längst da – die von der Kritik ignorierten Einfamilienhausgebiete, die alle Anzeichen des amerikanischen Sprawl tragen, die fast ausnahmslos eine banale Ästhetik repräsentieren, die aber am Markt gut gehen, dies alles spielt sich „hinter dem Rücken“ ab; der Blick der Fachwelt ist allein auf die wenigen Objekte und Planungen konzentriert, die der „reinen Lehre“ entsprechen; die Architektur-Biennale zeigt dies eindrücklich. Sie umfassen aber bestenfalls einen einstelligen Prozentsatz des überhaupt Gebauten. Wir machen uns etwas vor, wenn wir sagen, wir sind gut, Amerika ist fern.


Die trügerische Selbstgefälligkeit verhilft dem hier als krude bezeichneten Amerikanismus viel mehr einer Geltung und kann, über kurz oder lang, zu einem bösen Erwachen führen. Der „Holland-Schock“ sei hier stellvertretend erwähnt. Er hat den Alltag in der Baukultur erreicht. Deshalb lohnt sich ein Blick über den Atlantik, können doch dort Entwicklungen, die zeitversetzt den europäischen voraus sind ebenso studiert werden, wie verschiedene Gegenstrategien. Dies ist umso wichtiger, als es sich um Bedingungen handelt, die unter geradezu rabiaten Marktverhältnissen ablaufen, die uns in Deutschland so (noch) unbekannt sind. Aber gerade das „NOCH“ ist wichtig.

So wäre die These aufzustellen, dass eine Synthese der Planungskultur in Europa bzw. Deutschland (NRW-Baukultur) und den jenen Elementen der US-amerikanischen Kultur, die der kruden „Kultur“ der ausufernden Verbauung, dem Sprawl, der absoluten Autodominanz, dem Abbau des öffentlichen Verkehrs, der ausschließlichen Gültigkeit der Rendite, der sozialen Exklusion, der funktionalen Entmischung usw. entgegenwirken dazu führen könnte, die europäische Planungs- und Baukultur resistenter und entwicklungsfähiger zu machen. Dies ist keine Floskel, wenn man feststellt, dass in Deutschland z. B. der Flächenverbrauch durch Verbauung eher steigt, als dass er sich dem Gebot der Nachhaltigkeit annähert.

Der Druck einer Globalisierung mit ihrer ausschließlichen Investoren- und Marktorientierung wirft sehr schnell die Frage nach angemessenen Reaktionsformen auf. In den USA ist dieser Prozess seit einigen Jahren bzw. Jahrzehnten im vollen Gange. Die Demontage des einst gut ausgebauten Straßenbahnsystems in den großen Städten kann hier als Synonym für den Verlust an Stadtkultur angesehen werden – in einigen Städten, wie z.B. in Portland, wird gegenwärtig unter großen Mühen der öffentlichen Hand und privater Investoren eine Straßenbahn wieder aufgebaut, die in den 1960er Jahren demontiert worden war. So ergibt sich die Schlussfolgerung, dass wir NOCH alles haben, was wir meinen, dass es zu einer europäischen urbanistischen Kultur gehören müsse.

Die kontroverse Debatte um die „Zwischenstadt“ und die „Europäische Stadt“ in der jüngeren Vergangenheit deutete auf die Schwierigkeiten mit der Anerkennung anstehender grundlegender Veränderungen in der Städtebaukultur. Suburbia, Postsuburbia oder Exurbia sind noch weitgehend Fremdwörter in der praktischen Stadtumbaupolitik, Themen, die uns aber bereits jetzt beschäftigen müssten, was in den USA seit langem der Fall ist und was dort zu jenen, durchaus auch kritisch zu diskutierenden Bewegungen des New Urbanism usw. geführt hat. Das Thema Stadt-Schrumpfung (in den USA seit 20 Jahren kein unbekanntes Thema) - und die politische Debatte darum - verdeckt zudem gegenwärtig die am Horizont heraufziehenden Wolken jenes kruden Amerikanismus, der sicher bald als „Heilmittel“ für das Schrumpfungsproblem in Deutschland ins Rennen geführt wird, unter welchem Namen auch immer. Die Renaissance der simplen Wachstumsdebatte deutet darauf hin, dass es nicht um „Smart Growth“, sondern um „Hard Growth“ gehen wird, das die Probleme der Stagnation in Deutschland vermeindlich lösen wird. Je eher wir uns mit den Gegenstrategien zum Sprawl auseinandersetzen, desto größer sind die Chancen, all das weiter zu entwickeln, was seit dem ökologischen Stadtumbau und der „behutsamen Stadterneuerung“ erreicht worden ist.

Resistenz heißt Integration von fremden Elementen zum Erhalt von Entwicklungsfähigkeit. Im übertragenen Sinne bedeutet das, dass die in den vergangenen 20 Jahren errungenen Standards der Planungs- und Baukultur nur gesichert und angepasst werden können, wenn sie durch neue Elemente angereichert, modifiziert und ergänzt werden. Die Beteiligungsfrage gewinnt dabei eine Schlüsselrolle. Gerade beim Stadtumbau, der zur tragenden Planungs- und Bauaufgabe der Zukunft wird, erhält die Beteiligung aller Akteure einen besonderen Stellenwert. Der Rückgang der Einflussmöglichkeiten der öffentlichen Hand, die zunehmende Rolle privater Akteure und ausländischer Geldgeber, die schleichende Aushöhlung von erreichten planungskulturellen Standards lassen die Notwendigkeit der Erneuerung dieser Standards und eingeübten Verfahren wachsen. Resistenz in diesem Sinne heißt nicht Beharren auf dem vermeintlich guten Stand unserer Planungskultur, sondern deren Aktualisierung.

Dennoch: NOCH sind wir gut. Noch verfügen wir über Strukturen, die kommunale Einflussmöglichkeiten auf die stadtregionale Entwicklung zulassen. Die entscheidende Frage ist aber nicht, ob wir besser sind als andere, sondern wie lange wir das noch sind und welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, unser System der räumlichen, öffentlichen Planung weiter zu entwickeln und an die Veränderungen anzupassen, ohne einer platten Reformdiskussion das Wort zu reden.

Ein Blick auf die USA kann dabei helfen. Schließlich gibt es dort Erfahrungen im Umgang mit einer rüden Marktorientierung, einer krassen Sozialpolitik und einer ungebremsten Zersiedlung, die alles in Europa in den Schatten stellt. Der Blick auf diese Verhältnisse soll helfen, den Blick auf unsere Entwicklungen zu schärfen, unser bisheriges Verständnis von Stadtentwicklung zu überprüfen und Aspekte ins Kalkül zu ziehen, die bisher als nur für Amerika gültig angesehen worden. Dazu zählt auch die Zunahme von neotraditionellen Elementen der Stadtentwicklung, wie sie in den Niederlanden bereits selbstverständlich Platz gegriffen haben und wie sie in Deutschland unter dem Verdikt einer platten Rückwärtsgewandtheit allzu oft geradezu verteufelt werden. Hier sind weitere, unvoreingenommene Debatten notwendig, schließlich geht es nicht um architektonische Geschmacksfragen, sondern um grundsätzliche Fragen der Zukunft der Stadt, der Region als Lebensraum. Werden Akteure, die andere ästhetische oder wirtschaftliche Auffassungen vertreten, als Partner beim Stadtumbau wirklich erst genommen? Diese Frage wird schnell bejaht, ist aber beim genauen Hinsehen nicht ohne weiteres eindeutig beantwortet. Die Bürgerbeteiligung ist vielfach auf den Akt der förmlichen Beteiligung beschränkt. Workshops haftet oft der Makel des Alibis. Zunehmend wird Beteiligung als störend empfunden und reduziert sich auf das unbedingt Notwendige, wie eine Studie des Bundesverbandes City- und Stadtmarketing in Deutschland jüngst feststellte. (1) Die Augen davor zu verschließen hieße, Realitäten zu leugnen. Gerade hier liegt aber ein Schlüssel für die zukünftig erfolgreiche Bewerkstellung des Stadtumbaus.

Am Beispiel des Charrette-Verfahrens zur Revitalisierung des Marktbereiches in der Stadt Merseburg – einer der schrumpfenden Städte im ehemaligen Chemiedreieck Mitteldeutschlands - soll dies an hand eines empirischen Falls praktizierter Integration des in den USA erfolgreich als Instrument der Anti-Sprawl-Bewegung angewendeten Verfahrens dargestellt werden.

Bewahren und Weiterentwickeln

Charrette ist sowohl eine Veranstaltungsform als auch ein strategisches Beteiligungsverfahren. Ich habe durch direkte Mitarbeit in den USA dieses Verfahren kenngelernt und auf die Verhältnisse in Deutschland transformiert. Es handelt sich um eines der innovativsten und komplexesten Verfahren für die öffentliche Beteiligung an städtebaulicher Planung. Charrette ist ein exploratives, also erforschendes und lernendes, zugleich mobilisierendes und stringent umsetzungsorientiertes Mitwirkungsverfahren. Sie verbindet lokales Wissen und Erfahrungen mit professionellen Kenntnissen, Fähigkeiten und inhaltlichen Impulsen. Sie integriert die Entscheidungsakteure aus Verwaltungen, Institutionen und Investorenkreisen mit lokal Handelnden. Die Charrette lädt ein, aber sie verpflichtet nicht. Sie ermöglicht es allen Interessierten, sich einzubringen. Sie nimmt die Meinungen ernst, wird dabei aber nicht zur „Schwatzbude“. Die Arbeit erfolgt „auf gleicher Augenhöhe“; die Beteiligten arbeiten gleichberechtigt, nicht in den durch die Institutionen gegebenen Hierarchierollen. Die Charrette vereint mehrere Elemente anderer Methoden und Verfahren in sich: die Phasen-Struktur der guten alten Zukunftswerkstatt, das produktive Arbeitsklima der Planungswerkstatt, den offenen Charakter für Planungs-Laien der Planungszelle, die radikale Öffentlichkeit des Open-Space-Verfahrens und die Integrationsmöglichkeiten von externen Kompetenzen in Gutachterverfahren.

Charrette bedeutet im Französischen „kleiner Karren“, hinter dem sich eine charmante Geschichte verbirgt: sich vor den Karren spannen und in aller Öffentlichkeit ein Produkt zu Ende bringen ... (2). Sie ist nicht akademisch konstruiert, gleichwohl erscheint sie nicht als abgenutzter Workshop. Vor allem aber ist die Charrette stringent umsetzungsorientiert, dabei radikal öffentlich und auf die jeweilige Situation anpassbar. Sie stellt eine Erweiterung der Planung dar, indem direkte Demokratie in der Planung einen zentralen Stellenwert gewinnt; und sie überwindet Beteiligungsrituale formalisierter Bauleitplanungsverfahren. Sie zwingt alle Beteiligten, sich zu entscheiden und Handlungen einzuleiten.

Laboratorium Marktplatz in Merseburg: Das Charrette-Verfahren

Das Verfahren in Merseburg begann Mitte Juni 2003 und endete mit einem großen Fest auf dem Markt am 3. Juni 2004. Insgesamt hatten sich über 100 Menschen an der Charrette unmittelbar und permanent eingebracht, ja den Planungsprozess im Wesentlichen bestimmt. Die Konzipierung und Moderation der Charrette wurde durch mein Büro übernommen. Im Verfahren wurden als Partner die Gruppe F und ts-redaktion, Berlin, einbezogen. Aus Merseburg beteiligten sich neben einer Gruppe von neun Studenten der FH Merseburg auch die lokale Agenda 21-Gruppe, Beschäftigungs- und kulturhistorische Initiativen, Ausländergruppen, Unternehmer, Gastronomen, Hoteliers, Stadtführer, Verwaltungsmitarbeiter, Wirtschaftsförderer, Quartiers- und Citymanager, Stadträte, Wohnungsunternehmen, Investorenvertreter, lokale und externe Architekten, Ingenieure, Sozialwissenschaftler, Anwohner, Senioreninitiativen, Fotografen und Makler – ein breites Spektrum von Akteuren des Stadtumbaus. Das Stadtplanungsamt war der federführende Partner. Andere Ämter der Stadt und des Landkreises, die Industrie- und Handelskammer, die Kirche und regionale Initiativen brachten sich punktuell ein. Eine wichtige Rolle spielte das Merseburg-Forum, das sich als bürgerschaftliche Plattform für die Revitalisierung der Kernstadt einsetzt. Es wurde zu einem Partner des Charrette-Verfahrens. Allein die große Resonanz und Mitwirkungsbereitschaft spiegelt das Potenzial wider, das bereit steht, die Re-Urbanisierung der Innenstadt gegen eine ungebremste Suburbanisierung zu forcieren.

Zur Lage: Sprawlgefahr in Mitteldeutschland

Der Raum zwischen Leipzig, Halle und Merseburg, das historische Mitteldeutschland, entwickelt sich seit 1990 zu einer im wahrsten Sinne des Wortes „Zwischenstadt“ (3). Während die Großstädte Leipzig und Halle sowie die Industriearbeiterstadt Merseburg beträchtliche Einwohnerverluste hinnehmen mussten, wuchsen in diesem suburbanen Zwischenraum die Einfamilienhausgebiete, die Gewerbe- und Einkaufsparks. Die bedeutendste Ansiedlung erfolgte am Rande der kleinen Gemeinde Günthersdorf. Vorbereitet wurde diese bereits im Sommer 1990, also noch zu DDR-Zeiten. Hier entstand im Umfeld von zwei Autobahnen mit über 140.000 m² Verkaufsfläche die größte Shopping-Mall in Ostdeutschland. (4) Mit dem Flughafen, der neuen Messe und Verteilzentren der größten deutschen Versandhäuser entstanden weitere Ankerpunkte für die suburbane Ausbreitung. Sie könnten als Frühformen einer amerikanischen Edge-City bezeichnet werden.

Mit den innerhalb eines Jahrzehnts entstandenen 400.000 m² Verkaufsfläche „auf der grünen Wiese“ entstanden in diesem Zwischenraum 7.000 ha Baugebiete (Gewerbe- und Wohnfächen). “Die Wohnsuburbanisierung erreichte in der Stadtregion Leipzig eine Dynamik, wie sie selbst in Hamburg oder München in der Hochphase der Suburbanisierung (60er/70er Jahre) nicht erreicht wurde.“ (siehe Anmerkung 4) In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre errang diese Ausuferung ihren Höhepunkt. Die Städte waren die großen Verlierer. Sie hatten dramatische Einwohnerverluste zu verzeichnen. Neben der Abwanderung in die alten Bundesländer vollzog sich eine sprunghafte Stadtflucht ins Umland. Hier zeigt sich die Besonderheit der gegenwärtigen Situation. Die Dekonzentration von Bevölkerung sowie Funktionen und die damit rasant einsetzende Suburbanisierung erfolgt in einer insgesamt demografisch schrumpfenden Region. Die in den letzten zehn Jahren durch Abwanderung und eine geringer werdende Fertilitätsrate reduzierte Gesamtbevölkerung hatte sich verstärkt im Raum zwischen den Städten verteilt. Dies ist eine besondere Form des Sprawl: der Schrumpfungs-Sprawl. Die sog. Zwischenstadt begann auch auf die existierende Stadt überzugreifen und höhlte sie partiell aus. Dies schlug sich besonders in den Gründerzeitgebieten und den historischen Zentren, so auch dem Kernbereich von Merseburg nieder. Dieser Trend hat sich in den letzten drei Jahren verlangsamt. Es scheint eine gewisse Erschöpfung der Abwanderung einzutreten.

Aber nicht nur die Abwanderung und Bevölkerungsschrumpfung haben den Kernstädten einen Schlag versetzt. Die zurückgehende Investitions- und Kreditierungsbereitschaft hat zu einem Desinvestment in den Innenstadtbereichen der kleineren und mittleren Städte geführt. Was die größeren Städte noch an Investitionen auf sich ziehen können, bleibt den Mittelstädten im Kernbereich versagt. Dies liegt vor allem in der schnelleren Realisierbarkeit von Investitionen im Einzelhandelssektor „auf der grünen Wiese“, mit entsprechender Rendite, und einer damit einhergehenden investiven Stigmatisierung der Kernstadt begründet. Öffentliche Förderungen versuchen dem ansatzweise entgegenzusteuern – der revitalisierende Erfolg stellt sich aber nicht automatisch ein.

Der Ort in der Region: Merseburg in Mitteldeutschland

Merseburg, eine Stadt mit noch ca. 35.000 Einwohnern, steht mitten in einem der gravierendsten Umbrüche ihrer Geschichte. Vor etwa 100 Jahren begann der „Aufstieg“ von einer Residenz- zur Industriestadt. Merseburg wurde Standort der größten und seinerzeit modernsten Chemiebetriebe Deutschlands, ja Europas. Die Leuna- und später Bunawerke entstanden hier im Zusammenhang mit der Kriegswirtschaft des ersten und zweiten Weltkrieges. Im Gefolge dieses Umbaus der über 1000 Jahre alten Stadt, die mit Schloss und Dom über ein bemerkenswertes Ensemble deutscher Kulturgeschichte verfügt, wurde die Stadt auf den Bedarf der Industrie als Wohnstätte für Industriearbeiter und Angestellte „zurecht gebaut“. Dieser Prozess erlangte vor allem seit den 1950er und 1960er Jahren hypertrophe Formen. Die gesamte Stadt wurde als Arbeiterwohngebiet mit Schnellstraßenverbindungen zu den im Norden und Süden der Stadt gelegenen Industriebetrieben bzw. zu den im Westen erschlossenen Braunkohlegruben umgebaut. Im zweiten Weltkrieg waren die Industriebetriebe und auch die Stadt Ziel von Bombenangriffen, denen große Teile der Innenstadt zum Opfer fielen. Die Kahlschlagsanierung der 1960er und 70er Jahre sorgte für weitere Zerstörungen von Stadt-Resten, insbesondere des zentrumsnahen Bereichs am Marktplatz. Großplattenblöcke, Erschließungsstraßen, verrohrte Stadtbäche und ein „Ensemble“ von Resten alter Bebauung kennzeichneten das Resultat: eine fragmentierte Stadt, die weitgehend zu einem „fordistischen“ Raum umgebaut worden war. 1954 war Merseburg auserkoren worden, eine Hochschulstadt zu werden. Im Westen der Stadt entstand ein Campus für eine Technische Hochschule, in der die Ingenieure der Chemieindustrie ausgebildet wurden. Damit war, aus heutiger Sicht, der Stadt auch ein Entwicklungspotenzial zugewachsen, das mehr als nur ein Element der arbeitsteilig organisierten Raumes der Industrielandschaft darstellen konnte.

Nach der politischen und ökonomischen Wende in Ostdeutschland 1990 erlebte Merseburg, wie viele andere Städte Ostdeutschlands, einen radikalen Bruch. Die Industrie wandelte sich von einer arbeitskräfteextensiven zu einer High-Tech-Branche, in der nur noch ein Bruchteil an Arbeitskräften benötigt wurde. Obwohl der Standort mit Dow-Chemical und ELF bedeutende Ansiedlungen zu verzeichnen hatte, konnte die dauerhafte Arbeitslosigkeit von 22% nicht kompensiert werden. Damit korrespondiert eine relativ geringe Kaufkraft der Bewohner, was wiederum eine begrenzende Wirkung auf die Entfaltung des innerstädtischen Einzelhandels hatte. Zugleich wirkten die erwähnten Ansiedlungen von großflächigen Einzelhandelseinrichtungen im näheren Umgebung kontraproduktiv für die Innenstadtentwicklung. Und natürlich entstanden die sprawlartigen Einfamilienhausareale im weiteren Umland – monofunktional und autoabhängig.

Merseburg ist jedoch vom Problem der Abwanderungen nicht erst seit 1990 geprägt, ein Umstand, der für das Außenbild der Stadt im sog. Chemiedreieck Mitteldeutschlands kennzeichnend war: Seit den 1970er Jahren verlor die Stadt etwa 10.000 Einwohner – bis 1990 wegen der Umweltbelastungen durch die Chemieindustrie. Seit 1990 verließen die Stadt etwa noch einmal so viele Einwohner wie zwischen 1970 und 1990, diesmal arbeitsbedingt und den „Verlockungen“ von Suburbia folgend. Der Schrumpfungsprozess hält weiter an, wenngleich auch nicht mehr in dem gleichen Tempo. Der Saldo zeigt sogar eine leicht positive Tendenz.

Vom Hinterhof zur neuen-alten Mitte: die Charrette

„Die Entwurzelung sollte Menschen aufrütteln, sollte sie dazu bringen, sich mehr umeinander und um ihre Umgebung zu kümmern.“ (5) Der Rat und die Verwaltung der Stadt Merseburg entschieden sich Mitte der 1990er Jahre für eine Doppelpolitik. Sie besannen sich auf die Innenstadt, die mit umfangreichen, öffentlich geförderten Sanierungsmaßnahmen langsam aufgewertet werden sollte. Gleichzeitig wurden, oft unabhängig davon, Ausweisungen von Gewerbe- und Wohnstandorten am Stadtrand vorangetrieben. Ein typisches Paradoxon: Das Leitbild „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ wurde zwar postuliert, aber dem Druck hoher Arbeitslosigkeit und von Investoren konnte politisch kaum widerstanden werden, obwohl die Konsequenzen für den Einzelhandel und die Infrastruktur in den Innenstädten absehbar waren. Die Sanierung von Altbausubstanz und kulturelle Aktivitäten wie Kneipenmeilen und Schaufensteraktionen konnten der Sprawlentwicklung nur ansatzweise entgegenwirken. Erst allmählich reifte die Erkenntnis, dass Angebote für neue Segmente der Bevölkerungsstruktur entstehen müssen, die ihren Platz in der Innenstadt finden können, ob als Konsument, als Unternehmer oder Bewohner. Mit der Charrette und einer parallel erarbeiteten und mit dieser zusammenhängenden Stadtmarketingstudie erlangte dieser Erkenntnisprozess seinen Abschluss. Ziel sollte eine Wieder- bzw. Neugewinnung von Identität mit der Stadt durch Re-Urbanisierung der vorindustriellen Stadt sein. Die Stadtbürger könnten durch Schaffung von Angeboten zur Mitwirkung an dieser Re-Urbanisierung auch Möglichkeiten für eine Ansiedlung erhalten, d. h., es würden Chancen für das Entfalten neuer Milieus aus der Hochschule, aber auch aus Unternehmen in der Region und aus Suburbia entstehen. (6)

Mit der Aufnahme der Stadt Merseburg in das Förderprogramm des Landes Sachsen-Anhalt („URBAN 21“) konnten ab dem Jahr 2001 die Grundlagen für diesen Prozess gelegt werden. Es wurde begonnen, verstärkt Maßnahmen zur Wirtschafts- und Städtebauförderung im Innenstadtbereich vorzubereiten. Die ersten Projekte konzentrieren sich vor allem auf das Dom-Schloss-Areal und auf den Umbau der Plattenbaugebiete. Diese Maßnahmen haben erste positive Resultate gezeigt: Das Bild der Stadt von einer grauen und schmutzigen Industriestadt begann sich nach Außen allmählich zu verändern. Doch die Wirkung nach Innen blieb begrenzt. Vor allem blieb der Markt ein „Hinterhof“ der Stadt. Dieser „Platz“ wirkt öde, ist nur selten genutzt, von einer Durchgangsstrasse tangiert, an seiner Südseite seit der Kriegszerstörung und Abrissen in den 1950er Jahren unbebaut, die verbliebene Nord- und die Westseite weisen bis zu 50 Prozent Leerstand auf; die im Osten angrenzenden Plattenbauten lassen den Markt noch einsamer wirken.

In dieser Situation entstand im Wintersemester 2002/03 an der Fachhochschule Merseburg (die ehemalig Technische Hochschule war Anfang der 1990er Jahre in eine FH umgewandelt worden) im Fachgebiet Kulturmanagement die Idee, sich diesem Problem zu widmen. Ein studentisches Projekt wurde ins Leben gerufen: „Studentisches Wohnen am Markt“. Die studentischen Analysen, Beobachtungen und Ideen wurden Ende Januar 2003 während eines öffentlichen Merseburger Kulturgespräches präsentiert. Der Erfolg war unerwartet groß. Der Vorstoß der Studenten erwies sich als ein Treffer auf einen neuralgischen Punkt. Der Markt und die Identifikationsmöglichkeiten, die er den Stadtbewohnern bieten könnte, waren plötzlich durch die Aktion der Studenten wieder ins Bewusstsein der Stadtöffentlichkeit gedrungen. Die Stadtverwaltung Merseburg veranlasste einen Planungsauftrag, der, in Zusammenarbeit mit der FH, an mein Büro, das „Labor für Regionalplanung“, ging. Unter der Überschrift „Neues Leben am Markt“ vereinbarten Stadtverwaltung, Planungsbüro und Fördermittelgeber, einen einjährigen Beteiligungsprozess zu organisieren, um das „Herz“ der Stadt wieder zu gewinnen. Der Markt sollte in kurzer Zeit wieder ein Ziel für die Bewohner und Gäste, der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens und ein Wirtschaftsfaktor werden und somit auch einen Beitrag gegen die weitere Suburbanisierung leisten.

Für Merseburg wurde ein dreistufiger Charretteprozess konzipiert, welcher die Kombination von Mini-Charrettes (als Vor- und Nachbereitung) und einer Hauptcharrette beinhaltete: drei themenbezogene, halbtägige Mini-Charrettes zur Vorbereitung auf eine Hauptcharrette, die eine Woche dauerte und den Kern des Verfahrens darstellte. Ihr wurden zwei Mini-Charrettes angeschlossen, in denen einzelne Aspekte vertieft bzw. „nachjustiert“ wurden. Am Ende wurde – neben anderen Ergebnissen - eine umsetzbare städtebauliche Lösung für die Südseite des Marktes gefunden, die ab Sommer 2004 in die Umsetzung übergeleitet wurde. Die Klärung der städtebaulich relevanten Fragen durch den öffentlichen Prozess, die Schaffung von Vertrauen und die Effizienz in der Charrette verschafften einen Vorteil gegenüber herkömmlichen Verfahren.

Die Dramaturgie des gesamten Verfahrens mit seinen Phasen und die Konzentration auf kurze, intensive Arbeitsabschnitte helfen den Beteiligten, sich einzubringen und langsam in den Gegenstand, die Arbeitsweise und die Kommunikationskultur einzuarbeiten. Gleichzeitig bietet dies die Möglichkeit, dass sich Akteure zu ihnen gemäßen Zeiten einbringen und dabei merken, wie der Prozess läuft und in welchem Stadium er sich befindet. Allein diese Vorgehensweise erhöht die Bindung mit dem Ort und dem Thema. In den jeweiligen Phasen wurden Charrette-Teams gebildet, die die jeweiligen Abschnitte vorbereiteten, indem Analysen angefertigt wurden (etwa eine umfassende Analyse der historischen Entwicklung des Marktplatzes). Die Teams werteten bestehende Planungen aus und führten mit zahlreichen Personen Gespräche, um deren Sichtweisen und Anregungen kennen zulernen. Die Ergebnisse dieser Vorbereitungen wurden als Impulse in die Charrette-Veranstaltungen eingebracht. Alles wurde offen besprochen und war stets öffentlich: Das lokale Fernsehen (der „offene Kanal“) und die lokale Presse waren permanent dabei und berichteten ausführlich, eine Internetseite wurde eingerichtet, Handzettel wurden verteilt, eine Ausstellung wurde erarbeitet, d. h., das gesamte Spektrum einer Öffentlichkeitsarbeit wurde ausgeschöpft.

Für die Charrette wurde der Saal im historischen Rathaus genutzt, der vorwiegend nur noch den Stadtratssitzungen dient und sich in unmittelbarer Nähe zum Markt befindet. Damit war stets der „Tatort“ der Charrette präsent und konnte, bei Bedarf, zu Ortsbegehungen aufgesucht werden. Umgekehrt waren die Türen der Charrette-Arbeitsräume stets offen. In einem nahegelegenen Bürgerbüro der Lokalen Agenda 21-Initiative wurde ein zeitweiliges Vor-Ortbüro eingerichtet. Kulturelle Aktionen - wie beispielsweise Straßendiskussionen zu konkreten Projekten oder eine symbolische „Geiselbefreiung“ (Rückgewinnung des während der Neubebauung der Innenstadt verschütteten Bachlaufes, der Geisel) und natürlich das große Fest zum Abschluss - komplettierten das Kommunikationswerk.
Die einzelnen Charrette-Veranstaltungen (sowohl Mini-Charrettes als auch die Hauptcharrette) wurden in einer Mischung aus Plenardiskussion, Brain-Storming, Arbeit in thematischen Arbeitsgruppen – stets am Plan, Anhörungen von Experten zu Spezialfragen und öffentlichen Foren zur Meinungsbildung, Kritik und Korrektur von erzielten Zwischenergebnissen sowie kulturellen Aktionen durchgeführt. Eine enge Folge von thematischen Erörterungen zu einzelnen Sachverhalten (Verkehr, Wohnwünsche verschiedener Nutzer, Landschaftsvernetzungen etc.), parallel dazu stattfindende Einarbeitungen in Pläne und abendliche Diskussionsforen kennzeichneten den Arbeitsalltag in der Charrette. Wesentlich sind die kurzen Rückkopplungszyklen in der Planerarbeitung, die ein schrittweises Reifen der Planung im öffentlichen Diskurs ermöglichen. Die Charrette zeichnete eine gleichzeitige und integrative Arbeit auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen aus. So wurden miteinander verbundene Ergebnisse auf den räumlichen Ebenen Marktplatz, Innenstadt und Stadtlandschaft erzielt:

- Marktplatz (Neubebauung, Lückenschließungen, Umnutzungen, verkehrliche Neuordnung, Platzgestaltung, Nutzungsänderungen auf dem Platz, architektonische Lösungen für die Neubebauung, historische Darstellung der baulich-sozialen Entwicklung),
- Innenstadt (verkehrliche Anbindung, wohnungspolitische Strategie/Milieuorientierung, landschaftliche Vernetzung, Verbindung zur Fachhochschule, Integration von bürgerschaftlichen Initiativen),
- Region (funktionale und landschaftliche Vernetzung mit den neuen Landschaften der Bergbaufolgeareale im Westen der Stadt und mit den revitalisierten Auen des Flusses Saale im Osten, verkehrliche Anbindung, kommunalpolitische Verknüpfung mit dem regionalen Zweckverband).

Für die Neubebauung der Markt-Südseite wurde eine Mischung aus Handel, Versorgung und Gastronomie (Erdgeschoss), studentischem Wohnen und Angeboten für differenzierte Wohnbedarfe (Obergeschosse) sowie die Integration des einzigen verbliebenen Gebäudes an dieser Seite (Denkmal von 1930) als Ort für gastronomische Nutzungen vorgesehen. Für diese Nutzungen konnten jeweils Investoren bzw. Betreiber gefunden werden. Somit ist das Ideal einer Nutzungsmischung erreicht. Zur sog. „Geiselbefreiung“ konnte eine Studie für die prinzipielle Machbarkeit während der Charrette erstellt und mit einer Planung für die regionale Vernetzung der Landschaftsräume untersetzt werden. Es ist vorgesehen, diese Machbarkeit durch ein Fachgutachten in der Folgezeit zu erweitern und dann den längerfristigen Prozess der Umsetzung einzuleiten.

Die radikale Öffentlichkeit, der integrierende Charakter und die stringente Ergebnisorientierung der Charrette haben sich bewährt. Die Integration von Investorenvertretern in den Prozess stellte eine Besonderheit dar, nicht nur in Ostdeutschland. Üblicherweise werden Verhandlungen mit Investoren hinter verschlossenen Türen geführt; die Öffentlichkeit wird möglichst erst zu einem sehr späten Zeitpunkt und wenn es unbedingt nötig ist informiert. Hier war es umgekehrt: Die Offenheit und Öffentlichkeit sowie die vertrauensvolle Integration der Investorenbelange in den Prozess hat das Projekt reifen lassen. Der Vorteil für die Investorenseite liegt auf der Hand: Das Ergebnis des Charrette-Verfahrens wird von einer breiten Öffentlichkeit getragen, und nötige förmliche Verfahren können beschleunigt werden. Parallel können die Umsetzungsvorbereitungen bereits soweit vorangetrieben werden, dass mit einer sehr effizienten Realisierung der Ergebnisse zu rechnen ist. Alle absehbaren Problempunkte wurden im Vorfeld durch die Einbeziehung von Verwaltungen, Behörden, Anrainern und potenziellen Nutzern behandelt und weitgehend konsensual gelöst. Der ursprüngliche Verdacht, die Charrette würde eine subtile Art zur Durchsetzung von Investoreninteressen gegen die Bewohnerschaft sein, konnte entkräftet werden. Zudem wurde eine vertrauensvolle Atmosphäre und Planungskultur erreicht, die einen Attraktivitätsfaktor zugunsten von Standortentscheidungen in der Innenstadt darstellt.

Dennoch: wenn das Verfahren nicht konsequent öffentlich und transparent weiter geführt wird, wenn die Verwaltung und die Stadträte in diesem Prozess nicht für eine zügige Weiterführung bzw. Umsetzung agieren, dann kann auch eine Charrette das Schicksal vieler Workshops erleiden, sie kann stecken bleiben. Dem ist – soweit wie möglich - vorgebeugt worden durch ein nahtloses Anschließen der förmlichen Planung und der Begleitung durch das Merseburg-Forum.

Ein internationaler Vergleich dieses Ansatzes zeigt, dass die Stadt Merseburg damit einem Trend folgt, der nicht städtebaulichen Moden verpflichtet ist, sondern konsequent die Erneuerung der Stadt aus sozialer Perspektive und als Einheit von Innenstadtstärkung und regionaler Vernetzung betrachtet. Die Tendenz ist eindeutig: Belebung der Innenstädte durch sozialkulturelle Projekte und Investitionen in die Ansiedlung von Bildungsinstitutionen, Wohnen für differenzierte Gruppen und durch Dienstleistungseinrichtungen sowie regionale Verknüpfung von Entwicklungsprojekten als „Regional City“. (7) Damit wird ein grundlegendes Thema des Stadtumbaus, nicht nur in Ostdeutschland, behandelt: der Abschied von der Stadt des Industriezeitalters und Ausrichtung auf eine Re-Urbanisierung als Bildungs- und Kulturstadt. Die Stärkung des Kerns vermindert, so die Hypothese, auf der die Charrette basierte, den ungezügelten Suburbanisierungsdrang und eröffnet die Chance, eine Regional-City des postfordistischen Zeitalters mit regional vernetzter Funktionsteilung zu entwickeln, in welcher die historischen Kernstädte eine tragende Rolle spielen.

„Die Präsenz einer vormodernen Geschichte im Alltag des Städters ist das erste Merkmal europäischer Urbanität. Das zweite beruht auf den Besonderheiten dieser Geschichte. Europäische Stadtgeschichte ist Emanzipationsgeschichte.“ (8) Insofern sind die beiden tragenden Momente der Planung für die Revitalisierung des Marktplatzes in Merseburg, die Neubebauung der leeren Südseite als Teil der Revitalisierung der historischen Struktur und das Charrette-Verfahren, auch Bausteine europäischer Stadtbaukultur. Es wäre jedoch vermessen anzunehmen, ein Projekt könnte die weitere Suburbanisierung sofort verhindern. Vielmehr war es das Ziel, die Öffentlichkeit zu mobilisieren für eine prononcierte Stärkung des Marktplatzes als Symbol und neuem-altem Ort des urbanen Lebens. An dem historischen Zentrum haftet das Gedächtnis der Stadt. Gerade dieser Faktor hat zu einem erheblichen Teil das Engagement der Menschen in der Charrette begründet. Dabei ging es nicht um nostalgische Rückwärtsgewandtheit. Es war stets der kritische Blick auf die Vergangenheit verbunden mit der Suche nach einer Lösung, die Reparieren, Wiedergewinnen und Weiterbauen verbindet. Damit wurde ein erster Schritt zur Re-Urbanisierung gegangen, der, über die bauliche Seite der Entwicklung hinausgehend, auf drei Ebenen nach der Charrette ab 2005 weiter verfolgt werden wird:

a) Institutionalisierung durch Etablierung des bürgerschaftlichen Forums auf gesamtstädtischer Ebene und Aufbau einer Agentur als Gremien für einen stadt-regionalen Umbau gegen die weitere Suburbanisierung;
b) Initiierung einer Konferenz am 1. April 2005, dem 80. Jahrestag der Gründung des mitteldeutschen Planungsverbandes, die der Stärkung von stadtregionaler Entwicklung gegen die weitere Sprawl-Bildung einen Impuls verleiht; die historische Reminiszenz an den Planungsverband, der seinen Sitz in Merseburg hatte und der der zweitgrößte nach dem Siedlungsverband Ruhr in Deutschland war (9) , soll Kräfte bündeln und neue Initiativen hervorzubringen;
c) Kommunikation auf der europäischen Ebene, in dem das Beispiel Merseburg als „Best Practice“ im Rahmen des Council for European Urbanism (c.e.u.), eines 2003 gegründeten europäischen Netzwerkes gegen Sprawl und für Städtebau-Reform, kommuniziert wird. (10)

Anmerkungen und Literatur

(1) bcsd-Tagung in Reutlingen, 21./22. 10. 2004: Tagungsbeitrag von Dr. Hollbach-Grömig (difu, Berlin): Trends im Stadtmarketing – Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage des difu und des Bundesverbandes für City- und Stadtmarketing Deutschland (bcsd). Danach ist ein deutlicher Trend zum Rückgang der Bürgerbeteiligung bei Stadtentwicklungsvorhaben zu verzeichnen.
(2) Kegler, Harald: Stadtumbau „Charrette“, in: Planerin, 4, 2002, S. 45-47; www.charrette.de . Auf der Basis eigener Erfahrungen mit dem Instrument der Planungswerkstätten, von denen eine für den Raum Bitterfeld-Wolfen mit dem Europäischen Preis für Stadt- und Regionalplanung (1998) ausgezeichnet worden war, sind die Potenziale, aber auch die Grenzen dieses Instrument der Ausgangspunkt gewesen, das komplexere Verfahren der Charrette als weiter entwickelte Planungswerkstatt einzusetzen. Die Grenzen von Werkstätten liegen zumeist in der eingeschränkten Öffentlichkeit (meist auf Planer, Architekten und Verwaltungen reduziert), in der Aktionsbezogenheit ( z.B. Wochenendworkshop), in einer meist geringen Prozessorientierung sowie in der oft fehlenden unmittelbaren Umsetzungsorientierung. Vgl. Sonnabend, Regina: Von der dreckigsten Stadt Europas zum Europäischen Preis für Stadt- und Regionalplanung, in: UND, Dessau, 1998, S. 12 sowie Kegler, Harald: Der Masterplan, in: Stiftung Bauhaus Dessau (Hg.): Industrielles Gartenreich 2, Dessau 1999, S. 110-112
(3) Sieverts, Thomas: Zwischenstadt, Basel, 2001, S. 14-15. Die sog. Zwischenstadt wird als internationales Phänomen charakterisiert, die ihre typischen Formen des „weder-Stadt-noch-Land-seins“ als funktionale Knoten und Netze entfaltet. Der Raum um Leipzig und Halle gehört in weiten Teilen zu einem solchen.
(4) Herfert, Günter; Röhl, Dietmar: Leipzig – Region zwischen Boom und Leerstand, in: Brake, Klaus; Dangschat, Jens; Herfert, Günter: Suburbanisierung in Deutschland, Opladen, 2001, S. 151-162. Alle Angaben zur Entwicklung dieses Raumes beziehen sich auf diesen Beitrag. Vgl. auch: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Raumordnungsbericht 2000, Bonn 2000, S. 53 ff.
(5) Sennett, Richard: Fleisch und Stein, Berlin, 1997, S. 434. Dieses Zitat bezieht sich auf den Roman „Howards End“ von Forster und verbindet die Entwurzelung mit der Automobilisierung. Dies kann auf den Verlust des sozialen Raumbezuges im weitesten Sinn übertragen werden.
(6) Kegler, Harald: Abschlussbericht zur Charrette, unveröff., Merseburg 2004, An dem Verfahren waren im Charrette-Teams auch als Partner beteiligt: Landschaftsarchitekturbüro Gruppe F, ts-redaktion, Berlin, und Prof. Dr. Geyer, FH Merseburg.
(7) Calthorpe, Peter; Fulton, William : Regional City – Planning for the End of Sprawl, Washington, 2001
(8) Siebel, Walter (Hg.): Die europäische Stadt, Frankfurt/M., 2004, S. 13 sowie Stock, Wolfgang J.: Geschäftsviertel „Fünf Höfe“ in München, in: Boeckl, Matthias (Hg.): Stadtumbau, Wien, New York, 2003, S. 58-72
(9) Kegler, Harald; Kuhn, Rolf: Planungskultur-Ost: Zwischen Chance zur Katharsis und Abgang eines Reformversuchs, in: DISP 115, Oktober 1993, S. 42-46
(10) Vgl. www.ceunet.de . Diese Netzwerk hat inzwischen auch eine deutsche Gruppe, die sich im September 2004 in Görlitz gründete.

Abbildungen:

1. Ablaufschema der Charrette in Merseburg
2. Foto der gegenwärtigen Situation am Marktplatz in Merseburg
3. Fotoserie vom Charrette-Prozess
4. Planzeichnungen der wichtigsten Charrette-Ergebnisse


 

 

Bildergalerie zur Charette Merseburg 2004

Charrettemodell Merseburg

Konzeption für den Projektablauf “Neues Leben am Markt” 2003-2004

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