Harald Kegler

Experiment und Alltag: Der Beitrag zur EXPO 2000 – ein Zwischenfazit auf dem Wege zur Bilanz
Vorbemerkung

Die EXPO 2000 war sicher ein besonderes Ereignis, das im Rahmen der dezentralen Projekte eher ungewöhnliche Wege in der Stadt- und Regionalentwicklung ermöglicht hat. Dabei geht es um die Korrespondenzregion Dessau-Bitterfeld-Wittenberg. Wenn ein erstes Fazit auf dem Wege zur Bilanz versucht wird, kann es bestenfalls kursorisch sein. Eine seriöse Aufarbeitung steht noch aus. Das Innehalten aber und der kurze, fast flüchtige Rückblick auf das, was in den vergangenen 15 Jahren im Osten Deutschlands verändert wurde, vermag den Blick zu schärfen für die kommenden Dinge. Insofern erlauben die EXPO-Beiträge ein Fokussieren auf das Besondere. Eines wird dabei deutlich: es sind Grundlagen gelegt worden und Versuche wurden gewagt für neue Wege in der Stadt- und Regionalentwicklung. Insgesamt aber handelt es sich um ein Stückwerk. Nun gilt es sich grundsätzlicher und langfristiger zu orientieren.


Der Sanierungsfall

Die Vergangenheit ist aufgeräumt. So jedenfalls könnte salopp die gewaltige Sanierungsarbeit der vergangenen 15 Jahre umschrieben werden, ohne Unbewältigtes und fälschlich Aufgeräumtes unerwähnt zu lassen. Es war ein großer, einmaliger Umbau der Stadt- und Regionallandschaft, der im Osten Deutschlands stattgefunden hat. Dabei wurde z. B. mit dem städtebaulichen Denkmalschutz seit Anfang der 1990er Jahre ein nicht hoch genug einzuschätzenden Beitrag zur Zukunftssicherung eines Teils des europäischen Städtebauerbes erbracht. Längst Abgeschriebenes oder ein kaum noch auf Rettung hoffendes Kulturgut ist wiedererstanden und eröffnet neue Möglichkeiten der Aneignung der überkommenen urbanistischen Vergangenheit in den vielen vor allem kleineren Städten. Gleiches gilt für den Stadtumbau – ein Programm, das mit einem fulminanten Wettbewerb 2002 eingeleitet worden ist und zunächst die überzähligen Wohnungsbestände betrifft, aber inhaltlich weiter gefasst sein dürfte: die Vorbereitung der europäischen Stadt auf ihr postindustrielles Zeitalter. Weniger im Blickpunkt, doch mit größeren Finanzmitteln und Kräften versehen wurden die riesigen Bergbauareale, die Braunkohletagebaue und die Urangruben saniert, gesichert und für neue Nutzungen aufbereitet.

Ein solcher – hier nur angedeuteter - Sanierungsprozess in so kurzer Zeit ist weltweit einmalig – allerdings auch die dafür eingesetzten Mittel waren (und sind) weltweit einmalig. Allein die Sanierung der stillgelegten Braunkohle- und Uranbergwerke verschlang in dieser Zeit etwa 20 Mrd. €. Eine komplett neue Landschaft ist zwischen Harz, Oder und Erzgebirge entstand – Europas größte künstliche Seen- und Kulturlandschaft – eine wahrhaft einmalige Bergbaufolgelandschaft. Die Sanierung der Braunkohletagebaue, der einstigen Mondlandschaften in Mitteldeutschland und der Lausitz, ist - einem Jahrhundertwerk gleich - fast abgeschlossen. Ein riesiges neues Seengebiet entsteht, der Bodensee ist künstlich neu geschaffen worden. Grube für Grube wurde alles umgebaut.

Mitten in diesen Sanierungsprozess der 1990er Jahre hinein wurde die Vorbereitung auf die EXPO 2000 gestartet. „Zur Hannoverschen Ausstellung gibt es Kritik: Das Modell der klassischen Großexposition habe ausgedient. Konkrete Projekte machen mehr erfahrbar. Es liegt nahe, die ‚Region als Exponat’ zu präsentieren.“ (Günter, S. 597) So lautete der Ansatz, wie er zunächst am Bauhaus Dessau formuliert worden war.

Es ist die Zeit der Industriebrachen und „Mondlandschaften“ gewesen. Die IBA Emscher Park hat die Industriekultur planerisch „geadelt“ und hat das Thema „salonfähig“ gemacht. Ein wichtiger Beitrag, der auch auf die Vorbereitung des EXPO-Beitrages im Land Sachsen-Anhalt Auswirkungen hatte, ja ohne diesen sicher nicht realisiert worden wäre. Das Land entschied sich 1994 das Gebiet des Industriellen Gartenreiches, Dessau-Wittenberg-Bitterfeld als Korrespondenzregion bei der EXPO-Gesellschaft in Hannover anzumelden – es gelang. So konnten in knapp 5 Jahren an „Stelle des einmaligen Ereignisses in einer Ausstellungshalle … Projekte von Dauer im ‚realen Raum’“ entstehen, die dem Motto folgten, „Wege und Prozesse zur Realisierung von Reformen auszustellen“. (Günter, S. 597) Sicher war der Anspruch größer als die Resultate letztlich diesen einlösen konnten, dennoch hat eine so angelegte EXPO viele Kräfte mobilisiert und anspruchsvolle Projekte wie Ferropolis oder die Piesteritzer Siedlung ermöglicht. Sie war Motivator für neue Wege bei der Sanierung, für hohe Qualitäten und für Grenzen überschreitende Kooperation. Es sind Symbole entstanden für eine weiter greifende Art der Sanierung als die übliche, meist nur sicherheitstechnisch angelegte Vorgehensweise.

Damit ist aber nur ein Teil dieser gewaltigen Veränderungen benannt, die den Sanierungsprozess dominierten und damit auch die EXPO-Projekte zunächst in den Schatten stellen: die gigantischen Gewerbegebiete und neuen Infrastrukturen, der rasante Ausbau des Autobahnnetzes, die Shoppingmalls an deren Kreuzungen, der Ausbau von Flughäfen oder Bahnhöfen, die Glanzfassaden neuer Büros …

Dies war ein viel stärker sichtbar gewordener Umbau. Ein Umbau, der zu einer doppelten Modernisierung führte, nicht nur Sanierung des Überkommenen bedeutete, sondern, einem „Sprung“ gleichend, auch den Alltag radikal modernisierte. Die vollständige Automobilisierung, das Explodieren der Stadtrandzonen mit dem oft beklagenswerten Sortiment der Bausparkassen, die Konzentration des Einzelhandels an den Autobahnabfahrten, das exorbitante Ausweisen von Gewerbegebieten u. ä. m. Die EXPO-Beiträge konnten nur bedingt etwas dagegensetzen – der Mainstream war nur gelegentlich zu „übertönen“. Die EXPO-Beiträge waren eine Randerscheinung, aber eine mit erhoffter Langzeitwirkung.

Grosses Los in DE-Ziebigk (gebaut für Autos,links) Werkssiedlung Pisteritz (gebaut für Menschen)

 

Zwischenfazit

Ein gewaltiges Stückwerk ist geleistet worden. Die einzelnen Aufgaben der Sanierung sind abgearbeitet worden, manchmal integrierend, meist aber additiv. Das ist der Normalzustand regionaler Entwicklung (Fürst, S. 25) Die die Sanierung bewerkstelligenden Verwaltungen und Planungsinstitutionen waren unvorbereitet für einen Prozess solchen Ausmaßes und solchen Zeitdruckes. So musste ein Stückwerk entstehen, in welchem die einzelnen Teile dem Stand der Plan-Technik entsprechen und allen Normen Rechnung tragen. Die EXPO-Projekte wollten mehr und haben den Blick auf eine kreative Sanierung zu lenken versucht. Dieser Widerspruch zwischen Besonderem und banalem Alltag verdient mehr Aufmerksamkeit.

Einige Momente in diesem Sanierungsprozess deuten auf einen neuen Horizont hin. In diesem großen Sanierungsprozess boten sich für Akteure und Institutionen „Spielräume“, Möglichkeiten, ungewöhnliches zu tun. In einem solchen Spielraum entstand die Korrespondenzregion zur EXPO 2000, wie die anderen dezentralen EXPO-Projekte zumeist auch. Hier war übergreifendes strategisches Denken ermöglicht und Abweichungen vom Regelfall letztlich zugelassen worden. Es hatte partiell so etwas wie eine „Ausnahmezustand“ geherrscht. Dies war kein verordneter Zustand, sondern einer, der von einzelnen Akteuren und Institutionen ausgehend für eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Vorhaben erreicht worden ist. Dabei waren „Spielregeln“ geändert und Denkansätze, die über die Standards hinausgingen, forciert worden. Es entstand so etwas wie ein besonderer Planungszustand, der neue Kooperation, projektorientiertes Denken, strategisches Vordenken und Verlassen von gängigen Schemata ermöglichte. Ferropolis ist ein solches Zeugnis dieses „Ausnahmezustandes“.

Obwohl der gesamte Sanierungsprozess im Osten Deutschlands ein einzigartiges Experiment war (und in Teilen noch ist), waren die dezentralen EXPO-Beiträge Ausdruck dieser Ausnahmesituation, die es verdient hätten, zum Alltag zu werden. Ob es das Industrielle Gartenreich Dessau-Bitterfeld-Wittenberg mit den Leitprojekten Ferropolis oder Piesteritzer Siedlung ist, ob es der Umbau der Plattenbaugebiete von Leinefelde, die Energieprojekte in Ostritz in Sachsen oder dem Elbe-Elster-Kreis waren oder der Stadtumbau in Leipzig-Plagwitz, um nur einige zu nennen, sie warfen am gebauten Beispiel Fragen auf, die über die Sanierungen hinausreichten: die Energiefrage nach dem Ende des Öls, die Bezahlbarkeitsfrage ohne Förderung, die Gestaltungsfrage der postindustriellen Stadt.

Auch wenn jetzt der demografische Wandel in aller Munde ist, er ist nur ein Teil der Symptome der sich in nächster Zeit erneut wandelnden Bedingungen. Die Reduzierung der Fördermittel und die Notwendigkeit, die Energiefrage nachhaltig zu lösen, erweitern die Fragestellungen. Noch ist es kaum vorstellbar, was es bedeutet, wenn der Osten Deutschlands sog. Ziel 3 – Gebiet der EU mit deutlich gesenkten Förderquoten wird, was praktisch zu einer „fördermittelfreien Zone“ führen dürfte. Es geht um neue Realitäten. Das ist eine Herausforderung, auf die alle Akteure kaum eingestellt sind. Was kann aus den Erfahrungen der EXPO-Projekte gelernt werden? Welche EXPO 2000 – Projekte haben es zur Nachhaltigkeit geschafft? Hier gilt es nun genauer hinzusehen und detailliert zu analysieren. Pietsreitz, Ferropolis gehören dazu und sicher auch andere – so jedenfalls die Einschätzungen der örtlichen Akteure. Die Frage nach deren regionalstrukturellen Wirkungen kann nur mit zeitlichem Abstand beantwortet werden. Ob die EXPO in diesem Sinne der richtige Hebel war, um die Transformation, den Umbau der alten Industrieregion in eine nachhaltige zu befördern, wird sich erst zeigen. Eine weitere wesentliche Frage ist, wie ein neuer „Ausnahmezustand“ genutzt werden könnte, um an die Prozesse der 1990er Jahre anzuknüpfen? Mit dem „Erneuerbare Energien Gesetz“ (EEG) entstand ein Rahmen für neue städtebauliche und regionale Experimente, die sich einem der zentralen Themen der Zukunft – der Energiefrage im umfassenden Sinne – zuwenden. Vielleicht bieten sich hier wieder „Spielräume“?

10 Jahre nach der EXPO - Bilanz und Ausblick

Eine international angelegte Konferenz und Ausstellung wäre denkbar geeignet, Bilanz und Ausblick zu formulieren. Was bietet sich mehr an, als dies im Jahr 2010 zu bewerkstelligen. Vieles kommt in diesem Jahr zusammen: Kulturhauptstadt Europas in Deutschland, zwei Internationale Bauausstellungen (in Brandenburg und Sachsen-Anhalt) haben Präsentationsjahr – darin sind strategische Ansätze für die Entwicklung der Zeit nach der „alten“ Industrie und dem Übergang zu einer wissensbasierten, sich in neuer Weise urbanisierenden Gesellschaft eingewoben und bieten ein günstiges Umfeld für grundsätzliches Bilanzieren.

Doch genügt es nicht, dies am Einzelfall zu exerzieren, eine Gesamtschau ist notwendig. Dafür böte sich ein historischer Anlass an: Im Jahr 2010 jährt sich zum 100sten Mal die erste große Städtebauausstellung in Deutschland – ein seinerzeit international weithin beachtetes Ereignis. Hier wurde, ausgehend vom großen Wettbewerb für die städtebauliche Entwicklung Berlins, ein umfassender - auch internationaler Blick auf das gerade begonnene Jahrhundert des Städtebaus gerichtet, das ganz im Zeichen der sich entfaltenden Industrie stehen werde. Heute haben sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt – die Städte und Regionen in Europa stehen vor der Herausforderung, den Übergang in das postinduistrielle Zeitalter in all den sozialen, ökologischen, technischen und stadtbaulichen Dimensionen zu bewerkstelligen. Der Umbau der Stadt nach der Industrie – im herkömmlichen Sinne - ist das große Thema. Ein Kongress und eine Ausstellung wären der Kern einer solchen perspektivischen Würdigung des historischen Ereignisses, das dem Ziel einer bilanzierenden Selbstverständigung unter Einschluss des internationalen Wissens verpflichtet wäre.

 

Abbildungen

1 Städtebaulicher Alltag: neue Vorort-Wohnsiedlung in der EXPO-Region, erbaut ab 1995 (Foto: Kegler)
2 Städtebaulicher Sanierungsfall: erneuerte Pietsritzer Siedlung, Projekt zur EXPO 2000 (Foto: Kegler)
3 Sanierungsfall Bergbaubrache: Ferropolis – die Stadt aus Eisen im Industriellen Gartenreich (Berliner Morgenpost, 12.03.2000)

Literatur

Günter, R. (2000): Hexenkessel, Halle
Fürst, D. (2001): Regionale Strukturpolitik in Sachsen-Anhalt, in: et, 2001, S. 24-25
Kegler, H (2005): Ferropolis – die Stadt aus Eisen, Dessau

Dr. Harald Kegler
Labor für Regionalplanung
Ferropolis
06773 Gräfenhainichen
harald_kegler@yahoo.com
www.dr-kegler.de

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et - Magazin der Regionen 2/2000, S.58 - 61

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Mitteldeutschen Zeitung vom 02. Oktober 2001/ von Claus-Bernd Fiebig